Terrorermittlungen in Schwerin:Schwefelsäure, Aceton und ein Thermometer

In Schwerin fasst die Polizei einen 19-jährigen Bombenbauer aus Syrien. Tagelang hatten die Beamten jeden seiner Schritte beobachtet und sich gefragt: Wann soll man dem Treiben ein Ende setzen?

Von Ronen Steinke, Berlin

Batterien, Funkgeräte, eine angebrochene Flasche des Lösungsmittels Aceton. Es ist eine regelrechte Bombenwerkstatt, in der die Beamten stehen, als sie am Dienstagmorgen die Tür zu Yamen A.s Wohnung im Schweriner Vorort Neu-Zippendorf aufgebrochen haben. Der Syrer, 19 Jahre alt, ist gefasst, ein "schwerer Terroranschlag" verhindert worden, sagt der Bundesinnenminister.

Aber der Blick in die Wohnung birgt für die beteiligten Beamten auch eine beunruhigende Erkenntnis. Der 19-Jährige war seinem mutmaßlichen Ziel, eine Bombe zu bauen, nah. Näher als selbst die Ermittler, die ihn eine gute Woche lang observiert hatten, dachten. Dass Yamen A. schon Aceton besaß, eine wichtige Zutat - das lernen sie erst in diesem Moment.

Seit drei Monaten macht Yamen A. in Chatrooms auf sich aufmerksam, prahlt mit Anschlagsplänen, auch im Gespräch mit einer Person, die sich selbst als "Soldat des Kalifats" bezeichnet, also als Mitglied des sogenannten Islamischen Staates. Erst jetzt hat man ihn gestoppt. Es ist stets dieselbe schwierige Frage, wenn Sicherheitsbehörden Verdachtsfälle wie diesen identifiziert haben. Was spricht fürs Zugreifen, was spricht fürs Abwarten?

Dafür ist der Fall fast ein Lehrstück. Der 21. Oktober markiert den Beginn. Erst da hat das Bundesamt für Verfassungsschutz jenes Puzzlestück geliefert, mit dem sich der Mann identifizieren ließ, der in Chatrooms auffiel. In seinen Accounts haben Ermittler eine Einkaufsliste entdeckt, der 19-jährige Yamen A. hatte sich seit Ende Juli Dinge von einem Online-Versand liefern lassen. Eine Oxidatorlösung etwa, die Schwefelsäure enthält. Und noch ein Gegenstand, der die Ermittler alarmiert: ein Thermometer. Das bestärkt sie in dem Verdacht, dass er TATP herstellen will, ein hoch explosives weißes Pulver, mit dem schon al-Qaida experimentierte und das auch bei den Anschlägen in Paris und Brüssel benutzt wurde. Beim "Kochen" müssen die Zutaten gekühlt sein.

Die Sorge wächst

Eines ist merkwürdig: Yamen A. hat sich nur kleine Mengen der Chemikalien beschafft, die für TATP notwendig sind. Rechnet man herunter, wie viel bei der Herstellung am Ende herauskommen dürfte, sind es nur wenige Gramm, meint ein Ermittler. Der 19-Jährige betreibt also den ganzen Aufwand - für einen letztlich kleinen Knall? Schwer zu glauben.

Die Kriminaltechniker beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden diskutieren. Am Ende sind sie nicht beruhigt. Eher wächst die Sorge. Es hat schon Fälle gegeben, in denen das weiße Pulver bloß als Treibladung im Sprengzünder dienen sollte, als sogenannter Initialsprengstoff. Ein Zünder für die eigentliche Sprengladung. Die Frage lautet jetzt: Wie gewaltig mag die Sprengladung sein, die Yamen A. bauen will, wenn er als Zünder dafür TATP braucht?

Tagelang beobachten Beamte Yamen A. bei jedem Schritt

Ein möglicher Hinweis: Ende September 2017 hat er zehn Kilo Wasserstoffperoxid bestellt. Damit hat schon die sogenannte Sauerland-Zelle vor zehn Jahren Sprengstoff brauen wollen. Aber Yamen A. hat seine Bestellung wieder storniert. Warum? Weil er es sich anders überlegte? Oder weil er aus anderer Quelle leichter an den Stoff zu kommen glaubte?

Von nun an beschäftigt sich ein großer Kreis bei Polizei und Nachrichtendiensten mit dem Verdachtsfall, es gibt Gesprächsrunden im GTAZ, dem gemeinsamen Terror-Abwehrzentrum in Berlin-Treptow. Ein mobiles Einsatzkommando des Bundeskriminalamts wird nach Schwerin geschickt. Die Beamten sollen die Wohnung ununterbrochen im Blick behalten. Mag sein, dass Yamen A. bislang "nur" TATP hat. Aber schon das ist ein äußerst instabiler Sprengstoff. Die Beamten fürchten, er könne es aus Versehen zur Detonation bringen. Ein Stoß, Wärme oder Reibung genügen. In dem Haus leben viele andere Menschen. Soll man dem Treiben nicht schnell ein Ende setzen?

Andererseits: Greift man zu früh ein, schreckt man das Umfeld auf. Dann verstummen Chats. Mögliche Mitverschwörer verkriechen sich. Das Netzwerk entkommt. Das Klischee, wonach Polizeibehörden stets nach vorne preschen, weil sie nicht lange warten wollen, stimmt heute oft nicht mehr. Das Klischee, wonach die Nachrichtendienste immer auf die Bremse treten, weil sie bis zur letzten Minute lauschen wollen, auch nicht unbedingt. Tagelang beobachten Ermittler Yamen A. bei jedem Schritt. Bis sie resümieren: Seine Kontaktleute in Deutschland stünden "dschihadistischen Inhalten nicht abgeneigt gegenüber", wie die Bundesanwaltschaft es ausdrückt. Mehr nicht. Über konkrete Tatpläne, sofern er schon welche hegt, wurde nicht gesprochen.

Die Festnahme eines einsamen Wolfs

Das genügt. Es gibt keinen plötzlichen Auslöser, Yamen A. dann ausgerechnet in den Morgenstunden des 31. Oktober in seiner Wohnung festzunehmen. Nur die Abwägung: Weiteres Observieren würde wenig weitere Erkenntnisse bringen, schätzen die Ermittler. Andererseits weiß niemand, wie schnell und auf welchem Weg der Verdächtige doch noch zu seinem mutmaßlichen Ziel kommt. Gerade bei jungen Tätern kann das plötzlich schnell gehen.

Am zehnten Tag, nachdem Yamen A. erstmals identifiziert worden ist, stürmen sie also seine Wohnung. Es wäre ihnen lieber gewesen, ihn draußen festzunehmen, wenn er gerade das Haus verlässt, fern von dem gefährlichen Sprengpulver. Andererseits gilt es, zur selben Zeit auch Yamen A.s Kontaktleute in zwei nahe gelegenen Wohnungen und einen weiteren Gesprächspartner in Hamburg zu fassen. Niemand soll vorgewarnt sein. Daher die Uhrzeit, sechs Uhr morgens.

Wenige Stunden später sagt der Bundesinnenminister Thomas de Maizière: "Nach allem, was wir wissen, erfolgte der Zugriff zum richtigen Zeitpunkt: spät genug, um Beweise zu sichern, und gleichzeitig früh genug, um die Gefahr zuverlässig bannen zu können." Die Bundesanwaltschaft möchte Yamen A. nun vorerst als lone wolf anklagen. Als mutmaßlichen Einzelgänger, ohne Netzwerk. Und ohne ihm einen konkreten Plan vorwerfen zu können.

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