Terrorattacken in Kenia, Nigeria und Somalia:Tödlicher Staatszerfall

Massaker der Al-Shabaab-Miliz in Kenia

Diese Angehörigen von Opfern des Massakers in einem Steinbruch warten in Nairobi auf die Ankunft der Leichen.

(Foto: dpa)

Im Irak wüten die IS-Milizen - und keiner schaut mehr auf Afrika. Dabei können al-Shabaab und Boko Haram allemal mithalten, wenn es um Graumsamkeit geht. Die Bürger sind den blutigen Attacken schutzlos ausgeliefert. Und der Staat? Dankt ab.

Kommentar von Tobias Zick

Misst man den Erfolg einer Terrorkampagne am Grad internationalen Aufsehens, das sie erregt, dann könnte man sagen: Es ist kein leichtes Geschäft in Afrika. Denn das Köpfe-Abschneiden der Miliz Islamischer Staat in Syrien und Irak bindet derzeit so viel Aufmerksamkeit, dass Massaker in anderen Teilen der Welt etwas aus dem Blick geraten. Auch wenn sie an Grausamkeit allemal mithalten können.

Dienstagmorgen im Nordosten Kenias beispielsweise: Bewaffnete stürmen ein Zeltlager, in dem Arbeiter eines Steinbruchs schlafen. Sie trennen Muslime von Nicht-Muslimen, richten letztere der Reihe nach per Kopfschuss hin oder schneiden ihnen die Kehle durch. 36 Menschen sterben, zehn Tage nachdem wenige Kilometer entfernt 28 Insassen eines Überlandbusses massakriert worden sind. Die Hintermänner prahlen später, dies sei die Vergeltung dafür, dass kenianische Truppen in Somalia gegen Islamisten kämpfen; und dafür, dass die kenianische Polizei im eigenen Land Moscheen gestürmt hat, in denen mutmaßlich zum Dschihad aufgerufen worden war.

Die Opfer dieser Racheakte sind Kenianer, die aus anderen Landesteilen zum Arbeiten in die Grenzregion zu Somalia gezogen waren. Als Lehrer, Krankenschwestern, Buchhalter. Dutzende von ihnen haben sich nach dem Bus-Massaker auf den Flugplatz von Mandera geflüchtet, in der Hoffnung, die Behörden würden sie aus dieser unsicheren Region ausfliegen. Sie warteten tagelang vergeblich. Und so fragen immer mehr Kenianer, auch solche, die bislang loyal zu ihrer Regierung stehen, wo eigentlich der Staat bleibe.

Der Präsident rät den Kenianern, sich doch selbst zu schützen

Auf die Kritik, die ihm nach dem ersten Massaker von Mandera entgegenschlug, erwiderte Präsident Uhuru Kenyatta in einer öffentlichen Brandrede: Ja, bei der inneren Sicherheit gebe es Bedarf für Nachbesserungen - aber was tut ihr selbst, Bürger, eigentlich für die Sicherheit im Land, in eurer eigenen Nachbarschaft? Wir zahlen Steuern und befolgen die Gesetze, hielten ihm wütende Kenianer entgegen. Und ein Staat beanspruche doch sonst aus guten Gründen ein Gewaltmonopol.

Die Debatte, die von dieser jüngsten Terrorwelle befeuert wird, geht immer mehr ins Grundsätzliche: Soll man die Worte des Präsidenten so verstehen, dass Sicherheit, der Schutz des eigenen Lebens, Privatsache ist?

Die Entwicklung in Kenia deutet jedenfalls in diese Richtung. Private Sicherheitsfirmen boomen; wer es sich leisten kann, schafft sich seine individuelle Festung, alle anderen sind der Anarchie des öffentlichen Raumes ausgeliefert.

Staatliche Akteure verfolgen häufig Privatinteressen

Dabei sind staatliche Akteure durchaus tätig - allerdings immer öfter im Sinne ihrer Privatinteressen. Recherchen der Vereinten Nationen etwa haben ergeben, dass Vertreter der kenianischen Armee im benachbarten Somalia am Holzkohle-Export der islamistischen Al-Shabaab-Miliz, die sie offiziell bekämpfen, mitverdienen.

Als im Juni und Juli Bewaffnete in der nördlichen Küstenregion in einer Serie von Massakern mehr als hundert Menschen hinrichteten, da hatte zuvor - so der Bericht einer offiziellen Untersuchungskommission - ein hoher Beamter der kenianischen Anti-Terror-Polizei das Schmuggeln der schweren Waffen aus dem benachbarten Somalia an die Tatorte organisiert.

Wen wundert es da, dass eine Stadt wie Mandera an der Grenze zum Kriegsland Somalia den Racheakten von al-Shabaab schutzlos ausgeliefert ist - obwohl Kenias Armee nach eigenem Bekunden auf der somalischen Seite eine "Pufferzone" eingerichtet hat, um das eigene Land vor genau solchen Angriffen zu schützen?

In Nigeria mordet Boko Haram so ungehemmt wie nie zuvor

Manche Beobachter bescheinigen Kenia längst eine unaufhaltsame "Nigerianisierung" - in Anspielung auf das, was im Nordosten der westafrikanischen Wirtschaftsmacht Nigeria passiert. Dort, in den muslimisch geprägten Landesteilen, mordet die Terrorsekte Boko Haram so ungehemmt wie nie zuvor. Die Zentralregierung hat die Kontrolle über die Region offenkundig verloren - und sie hat diese Entwicklung seit Jahren befeuert, indem sie die muslimischen Gebiete in ihrer Unterentwicklung verharren ließ; indem sie den Terrorgruppen durch Übergriffe auf Zivilisten neue Unterstützer zutrieb; und indem sie es zuließ, dass hohe Offiziere und andere Beamte Staatsgeld in die eigenen Taschen umleiten.

Die Parallelen zu Kenia sind frappierend, auch wenn dort die Entwicklung noch in einem etwas früheren Stadium steckt. Aus den Todesschüssen von Mandera hallt eine Warnung an die Regierung in Narobi nach: Staatszerfall ist eine tödliche Krankheit. Aber er hat mächtige Nutznießer, die in Ländern wie Kenia und Nigeria immer öfter in Personalunion auftreten: Terrorismus und Big Business.

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