Terroranschlag in Boston:Auf der Suche nach den Feinden Amerikas

Die meisten Amerikaner vermuten reflexartig islamistische Gotteskrieger hinter dem Attentat von Boston. Sicherheitsexperten warnen dagegen vor rechtsextremen "Patrioten", die glauben, die USA mit aller Gewalt vor dem Untergang und vor Barack Obama retten zu müssen. Die Nation wartet ungeduldig darauf zu erfahren, wer der Feind ist.

Von Christian Wernicke, Washington

Der erste Verdacht schießt wie ein Reflex in Amerikas Köpfe: Terror - der muss mit islamischen Gotteskriegern zu tun haben. Und manche, zum Beispiel der notorisch redselige Kongressabgeordnete Peter King, sprechen gern aus, was sie denken: "Dies hat alle Kennzeichen einer Attacke der Marke al-Qaida", sagte der Republikaner nur sechs Stunden nach dem Anschlag von Boston. Indizien, gar Beweise hat der Mann nicht, am Tag danach widerspricht ihm auch eine namentlich nicht genannte Quelle aus dem Pentagon.

Terrorexperten warnen vor voreiligen Schlüssen, deuten die (relativ begrenzte) Sprengkraft der zwei Bomben als Hinweis, dass auch "ein einsamer Wolf" den Horror übers Land gebracht haben könnte. Ein solcher Einzeltäter könnte jeder sein: vielleicht ein versprengter Islamist - oder aber ein fanatischer Landsmann, der glaubt, Amerika mit aller Gewalt vor dem Untergang und vor Barack Obama retten zu müssen. Die Zahl solcher rechtsextremen "Patrioten" steigt stark, seitdem im Weißen Haus ein schwarzer Mann wohnt.

Am Morgen nach dem Blutbad auf Bostons Boylston Street verfolgen Amerikas Medien nur eine Spur - die islamistische. Denn unmittelbar nach der Explosion der zweiten Bombe hatte ein Zeuge einen angeblich "verdächtig agierenden Mann" am Tatort festgehalten und der Polizei übergeben.

Der Unbekannte ist Araber: ein 20-jähriger Saudi, über den die Boulevard-Postille New York Post prompt allerhand erfahren haben will. Der Mann habe nach Sprengstoff gerochen und Sekunden nach der Explosion gefragt, ob jemand gestorben sei. Die Polizei nennt den Mann, der mit Verletzungen am Bein in einem Bostoner Krankenhaus liegt und bewacht wird, zunächst eine "Person von Interesse" - das kann ein Zeuge sein, das könnte ein Verdächtiger werden.

Investigators survey the site of a bomb blast on Boylston Street a day after two explosions hit the Boston Marathon in Boston, Massachusetts

Am Morgen nach dem Blutbad auf Bostons Boylston Street verfolgen Amerikas Medien nur eine Spur - die islamistische.

(Foto: Reuters)

Am Montagabend durchsuchte das FBI dessen Apartment in einem Vorort von Boston. Ohne richterliche Anordnung, denn der Saudi kooperierte und gab den Beamten seinen Hausschlüssel. Und siehe da, am Dienstagvormittag flüsterte ein FBI-Beamter CNN zu, der Mann sei harmlos.

In der Stunde von Not und Verzweiflung redet auch das Staatsoberhaupt. Barack Obama ruft am Abend des Terrors seine Nation auf, "für Boston ein Gebet zu sprechen". Der Präsident lobt Polizei und Feuerwehr, verspricht, dass Amerika die Täter fassen und "mit der ganzen Wucht der Gerechtigkeit" strafen werde. Auch bei einem Auftritt am Dienstag wollte der Präsident keinen Verdacht äußern, seine kühnste Aussage war, dass Boston "ein Akt des Terrors" war.

Jedes Zwischenergebnis der Ermittlungen geht blitzschnell ins Weiße Haus, die Antiterror-Berater briefen ihren Chef rund um die Uhr. Und dennoch, oder eben deshalb, riskiert Barack Obama keine Spekulation: "Wir wissen noch nicht, wer dies getan hat - oder warum. Und wir sollten nicht voreilige Schlüsse ziehen, bevor wir alle Fakten kennen."

Doch gerade das fällt seinen Landsleuten schwer. Amerika ist seit dem 11. September 2001 eine verwundete Nation. Und auch nach den Anschlägen in New York und Washington haben die US-Bürger lernen müssen, mit dem Terror zu leben. Mehrmals hat der US-Sicherheitsapparat Attentate verhindert: Möchtegern-Terroristen wurden in New York wie in Oregon von Spitzeln mit angeblichen Sprengkörpern in die Falle gelockt und dann verhaftet. Andere Anschläge gingen schief, etwa der Plan eines Al-Qaida-Anhängers im September 2009, die New Yorker U-Bahn in die Luft zu jagen.

Die Wut der Kahlgeschorenen

Die Details all der Fälle haben die meisten Amerikaner vergessen oder verdrängt. In Erinnerung geblieben ist, dass die Drahtzieher oft Bärte trugen, fremd aussahen und aus Arabien oder Pakistan stammten. So wie Faisal Shahzad, der Einwanderer aus Pakistan, der im Mai 2010 als soeben eingebürgerter Landsmann versuchte, eine in seinem Auto versteckte Brandbombe am New Yorker Times Square zu zünden.

Nun tauchen die alten Bilder wieder auf. Sie erinnern daran, was beinahe passiert wäre. Sie machen Angst. Das Foto von Umar Farouk Abdulmutallab zum Beispiel, jenem jungen Nigerianer, den Hintermänner von "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" 2009 rekrutiert hatten und mit einer Bombe in der Unterhose in ein Flugzeug nach Detroit schickten.

Zum Glück für die 289 Menschen an Bord versagte der Sprengsatz, Abdulmutallab sitzt nun lebenslang in Haft. Seinen Mastermind, den Hassprediger Anwar al-Awlaki, richtete die Weltmacht zwei Jahre später per Höllenfeuer: Eine Rakete vom Typ Hellfire, abgeschossen von einer Drohne, tötete den gebürtigen US-Bürger.

Anwar al-Awlaki steckte als Zuflüsterer auch hinter dem Attentat, das islamistische Gotteskrieger als ihren größten Terrorerfolg auf amerikanischem Boden seit 9/11 zelebrieren mögen. Im November 2009 erschoss der Armee-Psychiater Major Nidal Hassan im texanischen Fort Hood 13 Soldaten und verletzte 30 weitere. Das Militärtribunal gegen Hassan ist ins Stocken geraten, aber die Bilder von einem finster dreinschauenden Mann in weißem Umhang und mit rauschigem Bart flackerten am Montag in Amerikas Wohnzimmern wieder auf.

Doch Terror und Gewalt in Amerika haben auch andere Gesichter. Manche sind kahlgeschoren und blass wie jenes von Wade Michael Page: Dieser rechtsextremistische "White Supremacist" erschoss voriges Jahr im Staat Wisconsin sechs Sikhs, die sich im Keller ihres Tempels auf den Gottesdienst vorbereiteten. Der Fall eines weißen, rassistischen Massenmörders schreckte viele Amerikaner auf und bestätigte, wovor Analysten vom "Southern Poverty Law Center" (SPLC) seit Jahren gewarnt hatten: einen neuen Trend zur politischen Gewalt von Rechtsaußen.

Erst im März hatte der SPLC-Report gewarnt, eine Bewegung von mehr als 1360 selbsternannten "Patrioten" sowie "ein harter Kern von mehr als 1000 Hass-Gruppen" mobilisiere gegen Barack Obamas Regierung und insbesondere gegen deren Pläne, Amerikas Waffengesetze zu straffen: "Die Wut der Rechten wird sich wahrscheinlich intensivieren", schreibt der SPLC-Experte Mark Potok.

Er erinnert an 1995 und an Timothy McVeigh, jenen rechtsradikalen Terroristen, der ein Bundesgebäude in die Luft sprengte und 168 Menschen tötete. Auch damals habe Washington kurz zuvor die US-Waffengesetze verschärft, auch damals sei die Zahl rechtsradikaler Kleingruppen und Milizen in die Höhe geschnellt. Seit Beginn der Obama-Präsidentschaft sei die Zahl solcher Zellen um 813 Prozent gestiegen.

Doch noch gibt es keine Beweise. Polizei und FBI ermitteln, geben sich zuversichtlich, den Tätern auf der Spur zu sein - und schweigen. Amerika wartet ungeduldig darauf zu erfahren, wer der Feind ist.

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