Süddeutsche Zeitung

Szenen am Tag danach:Ein Angriff auf alles, was schön ist

Lesezeit: 3 min

Die Attentäter zerschossen den Feierabend der Franzosen, der Terror traf sie im Fußballstadion, in Restaurants, in der Konzerthalle. Am Tag danach trauen sich manche kaum, einen Kaffee trinken zu gehen.

Von Alex Rühle, Paris

Natürlich, sie können es alle nicht fassen. Wie auch, "so was hat es nie gegeben, das ist ein Angriff auf uns alle, auf unsere Kultur, auf alles, was schön ist". Alexandre Schrepfer steht an der Absperrung am Boulevard Voltaire. Der 40-jährige Elsässer war auch am Freitagabend hier, seine Freundin suchen, die hier war, als der Terror losging - halb Paris war hier. Die Gegend zwischen Oberkampf und Bastille ist eines der angesagtesten Ausgehviertel.

Als er sie gefunden hatte, rannten ihnen schon blutverschmierte Besucher aus der Konzerthalle Bataclan entgegen. Alexandre und seine Freunde flüchteten mit ihnen in Richtung Place de la Republique. "Da liefen uns panische Menschen entgegen und riefen, dort gebe es einen Anschlag. Wir so: Nein, nein, der Anschlag war auf der anderen Seite. Und die wieder: Nein, nein, ihr täuscht euch, der Anschlag ist vorm McDonald's. Da wussten wir alle noch nicht, wie groß das Ganze ist."

Ein japanischer Reporter stellt sich dazu und fragt, ob denn das hier ein irgendwie ganz besonderer Ort sei. "Eh bien, non, c'est ca, le problème", sagt Alexandre mit einem bitteren Lachen, "eben nicht, das ist ja das Problem".

Was er meint: Die Attentäter hatten es auf den ganz normalen Alltag abgesehen. Restaurants, Cafés, Fußball - sie haben einfach mitten in den Feierabend der Franzosen geschossen. "Bei Charlie Hebdo haben sie ganz gezielt eine Gruppe Journalisten angegriffen. Diesmal geht es gegen uns alle." Die ehemaligen Redaktionsräume der Satirezeitschrift liegen gerade mal 200 Meter von hier in einer Nebenstraße.

"Das hier ist immer noch nicht Beirut, okay?"

Man spürt bei allen, die an der Absperrung stehen, wie der Freitagabend noch in ihnen nachzittert. Paul Ghanem, ein feiner 60-jähriger Herr, der unten am Kiosk seinen Kaffee aus einem Plastikbecherchen trinkt, hörte um viertel nach neun die Schüsse. Er wohnt in der Rue de Crussol, einer Seitenstraße des Boulevard Voltaire, im vierten Stock. "Erst dachte ich, das sind Knallfrösche, weil Frankreich ein Tor geschossen hat. Aber dann sah ich das Blaulicht an meiner Zimmerdecke. Und die Schüsse hörten nicht auf, immer neue Salven. Als ich auf den Balkon trat, rannten unten die Leute und auf dem Boulevard gab es schon einen Blaulichtstau, all die Polizeiautos und Ambulanzen ..."

Ein Anruf unterbricht ihn, sein Nachbar will ihn treffen, ist aber anscheinend so verwirrt und aufgebracht, dass er Ghanems einfache Erklärungen nicht versteht. Ghanem: "Hör mal, atme zweimal tief und dann hör zu. Ich bin am Kiosk. Wie immer. Ich bestell dir einen Kaffee. Das hier ist immer noch nicht Beirut, okay? Wir trinken jetzt erst mal Kaffee." Das ist wahrscheinlich das Beste, was man momentan tun kann: Weitermachen. "Sie wollen doch, dass wir alles aufhören: Konzerte, Restaurantbesuche, Fußballspiele ... Also müssen wir Fußball spielen."

Als Ghanems Freund Sylvain auftaucht, schreit gerade ein Mann im Parka, das alles sei die Rache für den scheiß transatlantischen Pakt, es sei höchste Zeit, dass sich die Franzosen endlich mit Putin verbünden. Sylvain war am Freitagabend ein paar Kilometer nördlich von hier in einem Konzert des Maliers Mo Koyate. "Und plötzlich war das Konzert einfach zu Ende. Und wir waren eingesperrt. Sie haben uns nicht rausgelassen. Bis zwei Uhr morgens. Das war ein dermaßen beschissenes Gefühl, wir alle in diesem kleinen Club und keiner weiß, was draußen los ist und wann wir wieder raus dürfen. Aber im Grunde war das Frankreich, von einem Moment auf den anderen ist das Konzert zu Ende, und alle sitzen im Dunkeln und sind Gefangene der Situation."

Im Keller bei Wasser und Wein

Ganz ähnlich ging es Damien Hennebelle, einem 28-Jährigen, der am Freitag in einem Restaurant in der Rue de Crussol saß. "Plötzlich Schüsse draußen. Der Kellner rannte raus, kam wieder und sagte, alle auf den Boden. Er hat dann das Licht ausgemacht, zugesperrt und uns alle in einen Keller geführt. Da saßen wir dann zwei Stunden, er hat uns Wein und Wasser gebracht."

Hennebelle schaut die Straße runter, in Richtung Bataclan, wo mehr als 80 Menschen starben. Dann die Straße hoch in Richtung Canal Saint-Martin, wo sie um sich geschossen haben. Dann breitet er die Arme aus: "Sie sind überall. Rings um uns. Hier geh ich doch jeden Freitag aus." Dann stockt er kurz. "Bin ich ausgegangen. Ist ja wohl vorbei."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2737403
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.