Terroralarm:Was in Berlin passiert, wenn eine Terrorwarnung eingeht

Pk Polizeipräsident nach Terroralarm

Polizeisperre am Münchner Hauptbahnhof in der Silvesternacht.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Die Behörden werden von Hinweisen überschwemmt. Die meisten stufen sie als unwahrscheinlich ein - und sagen die bedrohte Veranstaltung trotzdem ab. Der Ruf nach mehr Mut zum Restrisiko wird lauter.

Von Georg Mascolo

Im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum, kurz GTAZ, schieben die Beamten seit Monaten faktisch Doppelschichten. Ständig gehen neue "Gefährdungshinweise" ein, Warnungen vor angeblich drohenden Anschlägen in Deutschland. Allein das Bundesamt für Verfassungsschutz bekommt ein bis zwei davon pro Tag, viele Polizeidienststellen berichten, man werde derzeit geradezu überschwemmt. Hier in Berlin-Treptow werden die Hinweise analysiert und überprüft. Dann votieren die Experten, ob das Szenario realistisch ist - oder als unglaubwürdig eingestuft in der Ablage verschwinden sollte.

Schon 2003 wurde hierfür auf einer Sondersitzung der sogenannten Kommission Staatsschutz ein achtstufiges Prognose-Modell erstellt. Ziffer 1 steht dafür, dass mit einem "gefährdenden Ereignis zu rechnen ist." Die 3 steht für die Wahrscheinlichkeit einer solchen Bedrohung. Die 8 bedeutet "ist auszuschließen".

Die größte Sorge bereitet in diesen Tagen allerdings die Ziffer 6. Die verflixte 6 steht für das Dilemma der vergangenen Monate, für Fälle wie das abgesagte Länderspiel in Hannover oder den Aufmarsch schwer bewaffneter Polizisten in der Silvesternacht am Münchner Hauptbahnhof. Auf der Bewertungs-Skala steht die 6 für "unwahrscheinlich". Eigentlich glaubt man selbst nicht so recht an die angebliche Bedrohung. Aber unwahrscheinlich heißt eben nicht ausgeschlossen.

GTAZ

Das Ende 2004 in Berlin eingerichtete Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) ist keine eigenständige Behörde, sondern eine gemeinsame Kooperations- und Kommunikationsplattform von 40 nationalen Behörden aus dem Bereich der inneren Sicherheit. Es gibt keinen eigenen GTAZ-Leiter. Vielmehr trifft jede der beteiligten Behörden ihre Maßnahmen in eigener Zuständigkeit und im Rahmen der für sie geltenden Gesetze. SZ

Nie zuvor wurde in Deutschland so häufig Alarm ausgelöst wie 2015

Exakt dieses Szenario gab es im vergangenen Jahr so häufig wie niemals zuvor - und viele Staatsschützer befürchten, dass es 2016 noch schlimmer kommen könnte. Mit ziemlich bangem Gefühl haben sie sich im GTAZ ein gutes Neues Jahr gewünscht. Das abgelaufene Jahr war jedenfalls kein besonders gutes, nie zuvor wurde in Deutschland so häufig und öffentlichkeitswirksam Alarm ausgelöst. Es begann im Januar, nach den Anschlägen gegen die Redaktion der Pariser Satire-Zeitung Charlie Hebdo. Wie stets nach solchen Ereignissen stieg die Anzahl der Terrorwarnungen steil an: Es kam etwa zur Absage von Demos in Dresden und des Braunschweiger Karnevals.

Die Lage beruhigte sich wieder, bis Terroristen am 13. November erneut in Paris zuschlugen: Die Anzahl der Warnungen vor Anschlägen auch in Deutschland nahm wiederum dramatisch zu. In Hannover wollte das Bundeskabinett einschließlich Kanzlerin nur vier Tage später das Freundschaftsspiel der deutschen und niederländischen Nationalmannschaften anschauen - auf dem Rasen sollte als Zeichen der Solidarität die Marseillaise gespielt werden. Allerdings hatte es schon am Vorabend der Partie heftige Debatten im Kanzleramt und im Innenministerium gegeben: Ein ausländischer Nachrichtendienst hatte den Bericht einer Quelle übermittelt, in den nächsten ein bis zwei Tagen werde es in Deutschland möglicherweise zu einem Anschlag auf ein Fußballspiel kommen. Die Nervosität in Berlin war groß. Weil aber das genaue Spiel nicht genannt wurde, galt eine Bedrohung in Hannover doch als eher unwahrscheinlich. Man entschied, es nicht abzusagen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde angewiesen, sofort bei dem ausländischen Dienst nachzuhaken, man möge die Quelle so schnell wie möglich noch einmal befragen. Wie in solchen Fällen üblich wurden auch alle Informanten der deutschen Geheimdienste noch einmal kontaktiert, ob jemand etwas gehört habe. An die europäischen Partner gingen sogenannte Blitznachrichten mit der dringenden Bitte, die Information sofort zu prüfen.

Die Kanzlerin war schon auf dem Weg nach Hannover, die Blaskapelle übte die Marseillaise, als sich gegen 18 Uhr der ausländische Dienst noch einmal beim Verfassungsschutz meldete. Die angeblich stets sehr akkurat berichtende Quelle war erneut befragt worden und hatte erstaunlich detaillierte - wie offenbar falsche - Informationen übermittelt: In Hannover seien fünf Täter mit drei Sprengsätzen unterwegs, sie planten Anschläge im Stadion und später am Hauptbahnhof. Sogar Namen der angeblichen Terroristen wurden genannt. Das Spiel wurde doch abgesagt.

Innenminister Thomas de Maizière ärgerte sich ungeheuer, als der Polizeipräsident von Hannover kurz darauf über Einzelheiten der Warnung berichtete. Das sei anders besprochen gewesen. Auch deshalb weigerte sich de Maizière bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem niedersächsischen Kollegen Boris Pistorius, Einzelheiten zu nennen - und sprach den inzwischen berühmten Satz: "Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern."

In München befand die Polizei, für eine Überprüfung reiche die Zeit nicht

In München wiederholte sich das Muster: Bereits vor Weihnachten hatte es einen ersten Hinweis auf womöglich in der Stadt geplante Anschläge gegeben, eine Sonderkommission ermittelte. Der BND befragte den irakischen Hinweisgeber, einen ehemaligen Geheimdienstoffizier, in Bagdad. Wieder war es die Quelle, die früher mit den Amerikanern zusammengearbeitet hatte und als vermeintlich zuverlässig, wenn auch geldgierig galt. Die Warnung erhielt die Note 6 - die Aufregung legte sich. Auch ähnliche Tipps ausländischer Geheimdienste wurden mit 6 bewertet.

Dann kam kurz vor Beginn der Silvesterfeierlichkeiten von einem französischen Nachrichtendienst der Hinweis auf angeblich geplante Selbstmordattentate am Münchner Hauptbahnhof und am Bahnhof in Pasing. Namen wurden genannt. Die Polizei befand, es sei keine ausreichende Zeit für die Überprüfung, es kam zur Sperrung. Später stuften die Behörden den Hinweis ebenfalls mit 6 ein. Inzwischen würde er wohl eine 7 oder eine 8 bekommen: Der irakische Hinweisgeber hatte seine Geschichte offenbar einfach verschiedenen Geheimdiensten angeboten.

Terroristen sollen absichtlich falsche Informationen streuen

Fussball/ GES/ Deutschland - Niederlande, 17.11.2015

Durchsuchung des Fußballstadions in Hannover am 17. November: Die Zahl angeblicher Warnungen hat sich mehr als verdreifacht.

(Foto: Marvin Guengoer/GES)

Offiziell mag niemand die Entscheidungen des vergangenen Jahres kritisieren. Alle Beteiligten wissen um die Schwierigkeit, unter enormem Zeitdruck die richtige Wahl zu treffen. Hinzu kommt, dass so ziemlich alle Verantwortlichen davon überzeugt sind, dass vor allem der sogenannte Islamische Staat auch Deutschland treffen will. Und doch ist die Sorge weit verbreitet, dass es nun ständig zu solchen öffentlichen Warnungen kommen könnte, dass auch als unwahrscheinlich eingestufte Drohungen für Absagen und Absperrungen genügen. "Jede Absage", sagt ein Regierungsmitglied, "macht die nächste Absage wahrscheinlicher."

Inzwischen ist sogar von der Möglichkeit die Rede, dass Islamisten gezielt Hinweise auf angebliche Anschläge in die Welt setzen, um Angst zu verbreiten. De Maizière erklärte vor Abgeordneten, man wisse bis heute nicht, ob die Warnung in Hannover eine "Finte" gewesen sei. Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen wies darauf hin, dass dies durchaus eine Taktik der Islamisten sei, um Sicherheitsbehörden zu irritieren und für "Chaos zu sorgen". Harte Belege für die These aber gibt es nicht. Als mindestens so wahrscheinlich gilt, dass sich geldgierige Informanten Geschichten ausdenken, um, wie Maaßen es formuliert, "einen schnellen Dollar" zu verdienen. Nachrichtenschwindler nennt man solche Leute. Die Münchner Geschichte passt in dieses Schema.

Der Innenminister warnt: Das öffentliche Leben darf nicht zum Erliegen kommen

2015 gingen nach Zählung des Bundeskriminalamtes dreieinhalb Mal mehr Gefährdungshinweise ein als 2013 - mit weiter steigender Tendenz. Die meisten werden nach dem Bewertungsschema mit einer 7 ("ist eher auszuschließen") oder sogar der 8 eingestuft und verschwinden damit in der Ablage. Der Aufwand hierfür ist dennoch ungeheuer, denn jede Einstufung muss umfangreich begründet werden. De Maizière sagte vor Vertrauten einmal, man müsse aufpassen, dass das öffentliche Leben nicht zum Erliegen komme; auch bestehe die Gefahr, dass nach vielen Fehlalarmen die Bevölkerung im entscheidenden Moment eine Warnung nicht mehr ernst nimmt. Aber er möge sich auch nicht vorstellen, was passieren würde, wenn es doch einmal zu einem Anschlag käme und man eine Warnung ignoriert habe.

"Wir müssen uns aus dieser Situation herauswinden", sagt ein Staatsschützer. Verfassungsschutz-Chef Maaßen machte jüngst den Vorschlag, statt auf Ja oder Nein-Entscheidungen auf eine andere Taktik zu setzen: höhere Sicherheitsmaßnahmen treffen - und dann das Restrisiko aushalten. Auch Länder wie Großbritannien oder Israel hätten gelernt, mit dem Risiko zu leben, ohne das öffentliche Leben zum Stillstand zu bringen. Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter im BKA, Andy Neumann, kritisiert, dass es unter den Verantwortlichen in der Politik zu wenig Bereitschaft gäbe, ein Restrisiko zu tragen. Vor allem nach schrecklichen Anschlägen im Ausland gehe die Bereitschaft hierzu "gegen null".

Aber auch in den Sicherheitsbehörden ist eine Debatte darüber losgebrochen, ob man nicht selbst zu viele der Gefährdungshinweise gleich ganz nach oben ins Kanzleramt und in die Innenministerien weiterreiche. Die Rede ist davon, dass viele im Sicherheitsapparat Angst vor den Konsequenzen einer Fehlentscheidung hätten, vor den Medien und drohenden Untersuchungsausschüssen, und deshalb lieber auf Nummer sicher gehen. Die verflixte 6 wird noch für viel Aufregung sorgen.

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