Terrorabwehr:Fall Amri offenbart den blinden Fleck in Italiens Anti-Terror-Kampf

Italian Police officers work next to the body of Anis Amri, the suspect in the Berlin Christmas market truck attack, in a suburb of the northern Italian city of Milan

Die italienische Polizei sichert den Tatort in Sesto San Giovanni, dem Vorort Mailands, in dem Anis Amri bei einer Routinekontrolle erschossen wurde.

(Foto: REUTERS)
  • Italiens Behörden gehen radikal gegen Terrorverdächtige vor.
  • Sie setzen auf Repression statt Prävention.
  • Dadurch sind sie effektiv in der Terrorabwehr, verhindern allerdings nicht, dass sich viele junge Männer wie Anis Amri radikalisieren.

Von Moritz Valentino Matzner

Als Anis Amri im Jahr 2011 nach Italien kommt, ist er ein unpolitischer Flüchtling. Es gibt keine Anzeichen, dass der gebürtige Tunesier schon in seinem Heimatland Verbindungen zu Extremisten hatte. Vier Jahre später zieht er als radikalisierter Islamist nach Nordrhein-Westfalen, im Dezember 2016 verübt er einen Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt, bei dem zwölf Menschen sterben. Was ist in Italien mit Amri passiert?

Sein Fall offenbart einen blinden Fleck in der italienischen Anti-Terror-Strategie, die radikalen Islamisten in die Hände spielt. "Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann wird Italiens Islamistenszene weiter wachsen", sagt Lorenzo Vidino, der eine Kommission zur Untersuchung von Radikalisierung und islamistischem Extremismus führt, eingesetzt vom italienischen Ministerpräsidenten. Natürlich gebe es andere Faktoren wie den Krieg in Syrien, aber das Grundproblem sei, dass in Italien auf Repression statt Prävention gesetzt werde. Ein Problem, das auch im Fall Amri eine Rolle gespielt haben dürfte.

Die Anfänge - al-Qaida in Mailand

Seit mehr als 25 Jahren gibt es in Italien islamistische Zellen: Eine zum Kulturverein umgebaute Garage in Mailand war einst die "europäische Hochburg al-Qaidas", wie eine US-Behörde Mitte der neunziger Jahre feststellte. Der Kulturverein war Anlaufstelle und Logistikzentrum für Islamisten von Algerien bis Afghanistan, hier wurden falsche Pässe ausgestellt, einige in Mailand rekrutierte Kämpfer verübten Selbstmordattentate im Ausland. Ende der neunziger Jahre spannte sich ein Netzwerk von Terrorzellen über viele norditalienische Städte.

Das änderte sich nach dem 11. September 2001: Nach den Anschlägen auf die Twin Towers in New York wird in den USA die Homeland Security ins Leben gerufen, ein Minsterium für Heimatschutz; mit dem Patriot Act erhalten Sicherheitskräfte weitreichende Befugnisse. Auch in Italien ändert sich die Stimmung: Die Regierung Berlusconi geht radikal gegen mutmaßliche Islamisten vor. Das Vorgehen hat Erfolg: Ein paar Jahre später sind beinahe alle islamistischen Zellen ausgehoben.

Zentral dabei ist das "Komitee für strategische Anti-Terror-Analyse". Es wird zweieinhalb Jahre nach 9/11 ins Leben gerufen. Die Organisation koordiniert alle italienischen Sicherheitsorgane - von Zoll, Polizei, Anti-Terror-Einheit bis zu den Geheimdiensten. Für Andrea Margelletti, Terrorismusexperte und Dozent an zahlreichen Militär- und Polizeiakademien, steht fest: "Italienische Polizisten sind nicht besser oder schlechter ausgebildet als deutsche, französische oder belgische. Der Grund, warum es trotz der islamistischen Zellen in Italien noch keinen Anschlag gegeben hat, ist, dass wir unsere Terrorabwehr besser koordinieren - und deswegen effektiver arbeiten."

Kampf gegen Mafia in Italien

Das hat auch mit Italiens Vergangenheit zu tun: Der Kampf gegen Feinde aus dem Inneren hat Tradition, die Sicherheitskräfte kämpfen seit Jahren gegen die Mafia. Sie wissen, wie man überwacht, infiltriert und zugreift. Dafür wurden Gesetze geschaffen, die der Polizei viel Raum geben und Überwachung stark erleichtert.

Ist das der Grund, warum Anis Amri in Italien geschnappt wird, und nicht an einem Bahnhof in Frankreich? Oder in Deutschland, dem Land in Alarmbereitschaft? Glück hat eine Rolle gespielt, sagt Experte Vidino. "In Italien ist die Polizei aber auch an solchen Orten und kontrolliert. Ganz einfach." Dem stimmt auch Margelletti zu, bis 2014 strategischer Berater des italienischen Außenministers: Das Personal sei da, man könne vor Ort sein. Auch im Vorfeld habe man im Fall Amri alles richtig gemacht - deutschen Behörden sei kommuniziert worden, dass Amri nach Ansicht der italienischen Anti-Terror-Einheiten eine "gefährliche Person" gewesen sei. "Warum dann nichts geschehen ist, das müssen Sie die deutschen Kollegen fragen."

Neben Gesetzen und viel Personal hat die Erfahrung mit der Mafia aber noch etwas geändert: Es wurde ein gesellschaftlicher Konsens geschaffen, der Polizisten einen Vertrauensvorsprung gibt.

Ein Mitarbeiter des Innenministeriums, der anonym bleiben will, fügt hinzu: "Wir spielen nicht immer nach dem Buch, unsere Männer verlassen manchmal den Weg des Erlaubten. Diese Diskussion, die ihr in Deutschland gehabt habt, wegen Köln und 'Nafris', die wäre hier nicht vorstellbar. Wenn unsere Polizisten um drei Uhr nachts einen Nordafrikaner sehen, dann kontrollieren die ihn auch. Racial Profiling? Natürlich. Aber niemand beschwert sich. Es funktioniert ja!"

Italiens Strategie ist ein Spiel mit dem Feuer

Nach jetzigem Erkenntnisstand ist auszuschließen, dass Anis Amri als radikaler Islamist Europa erreichte. Stattdessen soll er während seiner Haftstrafe in Palermo mit dem Islamismus in Kontakt gekommen sein. Gefängnisse seien - neben dem Internet - zentral bei der Radikalisierung junger Männer, so der italienische Premier Paolo Gentiloni Anfang des Jahres. Die Dynamiken dort seien unterschätzt worden.

Dass der Weg in die Radikalisierung oft auf europäischem Boden beginnt, ist allerdings keine Neuigkeit. Seit den Anschlägen von London 2005 weiß man: Die größte terroristische Bedrohung für westliche Staaten kommt aus dem Inneren, sogenannter homegrown terrorism. Der Großteil der Attentäter von London, den Angriffen in Paris und Brüssel, fallen in dieses Muster: Sie sind im Gegensatz zu Amri sogar im Westen geboren, sind Belgier, Franzosen oder Briten.

In ihrer Rekrutierungspropaganda appellieren Organisationen wie der "Islamische Staat" an die Identität von jungen Menschen muslimischen Glaubens. Sie argumentieren, dass sie in ihren Heimatgesellschaften nicht willkommen seien - und sich dem Kampf gegen den Westen als Wertegemeinschaft anschließen sollten. Ziel sind dabei nicht primär Einwanderer, sondern die zweite oder dritte Generation.

Wie soll man damit umgehen? "Ein Gegennarrativ schaffen", sagt Ahmad Mansour. Er ist Programdirektor bei der European Foundation for Democracy und der Beratungsstelle Hayat, einer Organisation, sich mit Präventionsarbeit und De-Radikalisierung befasst: "Man muss den Leuten vermitteln, dass sie dazugehören. Sonst überlässt man den Islamisten das Feld."

"Wenn wir nicht verhaften können, dann schieben wir ab"

Dass sich die terroristische Bedrohung ändert, versteht man auch im italienischen Innenministerium, deswegen gibt es die Kommission unter der Leitung Vidinos. Als sein Report präsentiert wird, sagt der Innenminister: "Nicht nur Prävention, sondern auch De-Radikalisierung muss stattfinden". Er meint dabei vor allem eines: "In den vergangenen zwei Jahren haben wir 133 Personen präventiv aufgrund von Verbindungen zum islamistischen Extremismus abgeschoben" - per Dekret. Lorenzo Vidino nennt das "Italiens kleinen Trick": "Wenn wir nicht verhaften und wegsperren können, dann schieben wir einfach ab."

Wie soll das funktionieren bei dieser neuen Generation von im Westen radikalisierten Männern, die nicht im Ausland geboren sind?

Wer in Deutschland als Kind ausländischer Eltern geboren wird, bekommt die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn ein Elternteil acht Jahre in Deutschland gelebt hat. "Diese Reform hat es in Italien nicht gegeben", so Vidino. Migration aus islamischen Ländern nach Italien habe erst in den neunziger Jahren wirklich begonnen, zwei Jahrzehnte später als in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. In Italien gilt noch das "Blutsrecht", man bekommt den Pass der Eltern - sind diese keine Italiener, bleibt man also auf dem Papier "Ausländer". Von den schätzungsweise 1,3 bis zwei Millionen Muslimen in Italien haben deswegen nur etwa fünf Prozent die italienische Staatsbürgerschaft.

"Eine Steilvorlage für islamistische Extremisten" nennt so etwas Ahmad Mansour. "Wenn wir den Menschen symbolisch, wie durch eine Verweigerung der Staatsbürgerschaft, und auch im Alltag vermitteln, dass sie nicht dazugehören, schaffen wir die Probleme der Zukunft." Dem schließt sich auch Vidino an: "Aus dem kurzfristigen Blick der Terrorbekämpfung ist unsere jetzige Strategie perfekt - langfristig allerdings, von einer Integrationsperspektive aus betrachtet, sendet sie kein gutes Signal."

Junge Muslime in Italien sehen sich einem gefährlichen Diskurs gegenüber. Die radikale Abschiebepraktik, ermöglicht durch die Regelung der Staatsbürgerschaft, ist nur eine Manifestation des Verhältnisses von Italien zu seinen neuen Bürgern - und lenkt vom eigentlichen Problem ab: In "Italien fehlt jegliche gesellschaftliche Anstrengung in Bezug auf Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. Ein politischer Diskurs ist akzeptabel, der in Deutschland nicht denkbar wäre", so Vidino, der auch Professor an der George Washington University in Washington ist. Und weiter: "Die italienische Identität beruht noch sehr stark auf den Attributen weiß und katholisch. Es ist verständlich, wenn sich Menschen nicht zugehörig fühlen."

Dass Repression allein nicht reicht, ist also auch in Italien angekommen. Doch noch habe sich nichts geändert, sagt Vidino: "Anti-Terror, das fällt noch in den Bereich der Sicherheitskräfte, eine gesellschaftliche Anstrengung fehlt." Dass Anis Amri in Italien erwischt wurde, erstaunt nicht. Genauso wenig allerdings, dass er sich dort radikalisierte.

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