Radikalisierung:Schweigen oder Warnen?

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Tür in einer forensischen Psychatrie. (Foto: picture alliance / dpa)
  • In vielen Fällen, die wie Terroranschläge aussehen, wird beim Täter am Ende eine psychische Krankheit diagnostiziert.
  • Deshalb ist eine neue Debatte darüber ausgebrochen, ab wann Ärzte und Therapeuten mit der Polizei zusammenarbeiten sollten.
  • Das BKA fordert, dass Behandelnde sich kooperativer zeigen und ihre Handlungsspielräume stärker ausnutzen sollen.

Von Georg Mascolo und Ronen Steinke

Das letzte Mal, als in Deutschland die Debatte um die Schweigepflicht von Ärzten geführt wurde, waren gerade 150 Menschen getötet worden. Der depressive Pilot einer Germanwings-Maschine hatte das Flugzeug in den französischen Alpen abstürzen lassen. Damals, vor vier Jahren, gab es bittere Vorwürfe an die Ärzte des Piloten. Wieso hatten sie niemanden vor ihrem Patienten gewarnt? Auf der anderen Seite gab es den Einwand: Wenn Ärzte ihre Schützlinge an die Behörden melden, dann wäre die Folge, dass sich Kranke, die anderen gefährlich werden können, gar keine Hilfe mehr holen.

Es ist eine Grundsatzfrage, die jetzt mit neuer Dringlichkeit wiederkehrt. Anlass sind nicht mehr die 150 Toten aus den französischen Alpen, sondern es ist eine ganze Serie von Fällen, die auf den ersten Blick wie Terroranschläge aussahen und auch entsprechende Befürchtungen auslösten. Es sind die vier Toten aus der Innenstadt von Münster, wo im vergangenen April ein 48-Jähriger, der in psychiatrischer Behandlung war, in eine Gruppe Café-Gäste raste. Es ist das 14-jährige Mädchen, das am Kölner Hauptbahnhof mit Benzin übergossen und angezündet wurde, von einem Syrer, der wegen schwerer psychischer Probleme in Behandlung war, wie sich herausstellte. Zuletzt waren es die neun verletzten Migranten in Bottrop.

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Dort feierte eine syrische Familie gerade Silvester, es waren nur noch wenige Minuten bis zum neuen Jahr, da näherte sich auf dem Berliner Platz in Bottrop ein silberfarbener Mercedes Kombi. Er rammte den Vater und zwei Töchter, im Vorwärts-, dann im Rückwärtsgang. Er riss die Mutter zu Boden, dann fuhr er weiter. Vier Mal wiederholte sich das in dieser Nacht, zurück blieb die Frage, ob das Jahr 2019 gleich mit einer rechtsterroristischen Tat begonnen hat. Verübt von einem deutschen Rassisten. Manche Beobachter waren schnell dabei, diese Deutung zu verbreiten. Manche empörten sich, die Polizei verharmlose den Fall, weil sie überhaupt hinwies auf eine psychische Erkrankung des Tatverdächtigen, des 50 Jahre alten arbeitslosen Gebäudereinigers Andreas N.

Inzwischen ist der Mann vorläufig begutachtet worden, die Aufgabe übernahm Norbert Leygraf, Professor für forensische Psychiatrie und eine Größe in seiner Disziplin. Leygraf diagnostiziert eine paranoide Schizophrenie. Der Mann, der die Tat gestanden hat, war schon drei Mal in stationärer Behandlung gewesen, zuletzt 2016. Laut Zeugen hatte er in den Wochen vor der Tat seine Medikamente abgesetzt, er sah überall "Kinderficker" oder "Terroristen", am Morgen vor der Tat begann er, wirr zu schimpfen. Seine Attacke in der Nacht erklärte er mit einer "Eingebung", er sei beauftragt worden, die Ausländer in Bottrop an einer "Aktion" zu hindern.

Es soll nicht zu einfach sein, "Terrorist" zu werden

Die Behörden haben inzwischen ihre Entscheidung getroffen. Die Bluttat der Silvesternacht werden sie nicht als Terroranschlag einstufen, obwohl man auf dem Handy von Andreas N. durchaus einschlägiges Material fand. 14 Bilder zeigten Nazi-Symbole oder Fotos von Adolf Hitler. Der Täter befindet sich inzwischen nicht mehr in Haft, er ist jetzt in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Dass sein Verfahren mit dem Aktenzeichen 70 Js 1/19 jemals vor Gericht verhandelt werden wird, ist unwahrscheinlich. An der Grausamkeit der Tat besteht kein Zweifel. Aber kümmern sollen sich jetzt die Ärzte.

"Natürlich können Geisteskranke auch Rassisten sein", darauf beharrt der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent aus Jena. "Man sollte keine Dimension ausblenden." Je gründlicher die Ermittler aber hinsehen bei Einzeltätern, desto öfter entscheiden sie sich wie im Fall Bottrop gegen das Etikett Terrorismus. Für die Einschätzung "psychisch bedingt". Es gehe darum, Fällen nicht eine Bedeutung zu geben, die sie nicht verdienten, sagt ein Staatsschützer. "Wir wollen es den Leuten auch nicht zu einfach machen, Terrorist zu werden."

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Auch psychisch Kranke können radikal sein

Auch bei Islamisten gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Vorkommnissen, die von den Behörden als psychisch bedingt eingestuft werden, von vielen liest man nur noch in der Lokalpresse und nicht mehr auf der Seite 1 überregionaler Blätter. Etwa von dem Marokkaner, der in Süddeutschland mit einem Messer durch die Fußgängerzone lief und drohte, Christen zu ermorden. Oder auch ein Vorfall aus Berlin-Neukölln. Dort stürmte eine vollverschleierte Frau in ein Modegeschäft, warf der Verkäuferin vor, dass eine Schaufensterpuppe unzüchtig gekleidet sei und attackierte sie mit einem Messer. In dem Fall waren eigentlich alle Zutaten vorhanden, um von einer islamistisch motivierten Tat zu sprechen, die Angreiferin war sogar mit einem IS-Propagandisten liiert.

Die Prüfung durch eine Sachverständige ergab aber: Die Frau litt an Schizophrenie. "Die übliche Diagnose in diesen Fällen", sagt ein Strafverfolger, der viele dieser Fälle erlebt. Die Sachverständige in dem Fall schrieb, auch wenn Krankheit und Radikalität sich nicht unbedingt ausschließen müssten, sondern sich auch gegenseitig verstärken könnten, stehe die Krankheit "im Vordergrund". Schon bei der Festnahme war die vollverschleierte Frau nicht zu beruhigen gewesen, die Beamten brachten sie, sediert, direkt in ein Haftkrankenhaus.

Solche Muster gibt es inzwischen dutzendfach in Deutschland. Wenn Polizisten und Verfassungsschützer im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum in Berlin zusammensitzen, wo sie regelmäßig die Gefährlichkeit von Islamisten einschätzen, dann spielen psychische Auffälligkeiten eine immer größere Rolle. Oft sitzen Psychologen mit am Tisch. Manchmal drehen sich die Diskussionen darum, wie man nun einen guten Arzt für den Gefährder findet.

Als so gravierend wird das Phänomen inzwischen erachtet, dass das Bundeskriminalamt (BKA) einen Appell an Ärzte und Therapeuten gestartet hat. Das BKA bittet darum, sie sollten verstärkt ihre Spielräume nutzen, um ihr Schweigen zu brechen, wenn sie bemerken, dass von Patienten eine Anschlagsgefahr ausgehen könnte. "Wir wissen, dass die Abwägung für Berufsgeheimnisträger sehr schwierig ist, appellieren aber an ihre Hilfe", sagte der BKA-Vertreter Rainer Witt vor Experten der Bundesärztekammer und der Bundespsychotherapeutenkammer in Berlin. Horst Seehofers Innenministerium hat schon im vergangenen Jahr ein Projekt an der Universitätsklinik Ulm in Auftrag gegeben. Eine Gruppe von Kinder- und Jugendpsychiatern dort soll neue ethische Leitlinien erarbeiten. Die Frage lautet, wo bei radikalisierten Patienten die Schweigepflicht endet - und wo die Pflicht beginnt, die Gesellschaft zu warnen.

Die Schweigepflicht ist ein hohes Gut

Die Frage lautet aber auch, wie man bei all dem eine Stigmatisierung von Kranken vermeidet. Denn bei allen beunruhigenden Fällen gilt auch: Nur die wenigsten psychisch kranken Menschen neigen zu Gewalttaten, und für sie alle ist die Verschwiegenheit der Ärzte von größter Bedeutung. Nach dem Germanwings-Absturz war es der CDU-Politiker Jens Spahn, heute Gesundheitsminister, der mahnte: "Der Patient muss sich immer auf das besondere Vertrauensverhältnis zum Arzt verlassen können, nur dann wird er ehrlich und offen sein." Alle Forderungen auch aus seiner Partei, die Schweigepflicht zu lockern, nannte er "Schnellschüsse".

Das aktuelle Forschungsprojekt aus Seehofers Ministerium baut auf Erkenntnissen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) auf, wo man schon zahlreiche Fälle der Radikalisierung aus der Nähe begleitet hat. "Psychische Erkrankungen spielen eine Rolle. Auf dem Höhepunkt der Radikalisierung verhalten sich die meisten sehr auffällig", sagt Alexey Manevich von der Beratungsstelle Radikalisierung des Bamf. Das Bamf ist jetzt auch der offizielle Träger des Forschungsprojekts.

Am Ende liegt die Entscheidung beim Behandler

Auf eine erste Handlungsempfehlung an die Ärzte hat sich die Gruppe der Wissenschaftler bereits geeinigt, auch wenn ihr Abschlussbericht erst für 2020 angekündigt ist. Wenn ein Patient radikale Gedanken äußere, sei das noch nicht unbedingt ein Grund einzuschreiten. Wichtig sei, "über das Gespräch" mit dem Patienten "in Kontakt zu bleiben", sagt die Forschungsgruppenleiterin Thea Rau. Es gehe darum, den Patienten "zu stabilisieren und vor Gefährdungsmomenten zu schützen". Und vor allem darum, sein Vertrauen nicht leichtfertig zu verspielen.

Denn genau das ist das Risiko. Davor warnen die Ärzte. Am Ende ist jeder Behandler alleine mit der schweren Entscheidung, die Verantwortung nimmt ihm niemand ab. Nach Paragraf 138 des Strafgesetzbuchs haben Ärzte und Therapeuten bei ernsthaft geplanten schwersten Straftaten die Pflicht, sich an die Polizei zu wenden. Die Straftat muss dafür das Stadium der Planung erreicht haben. Das ist allerdings eine Frage der Interpretation. Und da beginnen die Probleme.

© SZ vom 28.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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