Terror:Mord vor Altstadt-Idylle

Der bei Touristen beliebte Weihnachtsmarkt von Straßburg war stark gesichert, aber das konnte den mutmaßlichen Täter nicht abhalten.

Von Karoline Meta Beisel, Nadia Pantel und Ronen Steinke

Die kleine rote Lok steht da, als streikten in Frankreich die Maroni-Lokführer: Kein Verkäufer, keine Kunden, keine Glut. Ein paar Meter weiter steht neben einem Mülleimer ein Plastiksack voll mit geschälten Kartoffeln, die heute niemand mehr zu Reibekuchen verarbeiten wird. Der Weihnachtsmarkt in der Straßburger Innenstadt blieb an diesem Mittwoch geschlossen.

Am Dienstagabend hatte Chérif C. am Rande des Weihnachtsmarktes das Feuer eröffnet, er tötete mindestens zwei Menschen. Bei einem dritten wurde der Hirntod festgestellt, weswegen es am Vormittag Verwirrung über die Zahl der Todesopfer gegeben hatte. Ein Dutzend weiterer Menschen wurde verletzt, sechs von ihnen schwer. Mittwochabend befand sich der Täter immer noch auf der Flucht, die Polizei gab einen Fahndungsaufruf mit einem Foto heraus, in dem sie die Bevölkerung um Mithilfe bei der Suche nach dem 29-Jährigen bat. "Erneut hat der Terrorismus auf unserem Boden zugeschlagen", sagte der Pariser Antiterror-Staatsanwalt Rémy Heitz am Mittwoch in Straßburg. "Das macht uns auf dramatische Weise klar, dass die Bedrohung immer noch sehr reell ist." Heitz zufolge kommt der mutmaßliche Täter aus Straßburg, er sei der Polizei wegen diverser Diebstähle und Gewaltdelikte "sehr bekannt" und habe schon mehrere Haftstrafen verbüßt. Erst am Morgen der Tat hatten Ermittler die Wohnung von C. wegen eines anderen Verfahrens durchsucht, es ging um den Vorwurf eines versuchten Tötungsdelikts. Dabei habe die Polizei eine Granate, ein Gewehr und vier Messer gefunden, sagte Heitz.

Chérif C. selbst habe man jedoch nicht angetroffen. Seit Dienstagabend sucht die Polizei nun mit einem Großaufgebot nach dem mutmaßlichen Attentäter, auch Hubschrauber sind im Einsatz. In der Altstadt von Straßburg merkte man am Mittwochmittag allerdings kaum etwas davon. Nach der Tat war die Insel, auf der die mittelalterliche Altstadt liegt, bis in den frühen Morgen abgeriegelt. Aus Sicherheitsgründen blieb auch das Gebäude des Europäischen Parlaments geschlossen, in dem in dieser Woche die Abgeordneten tagen. Am Mittag ist jedoch nur noch die unmittelbare Umgebung des Tatorts gesperrt, ein Abschnitt der Rue des Orfèvres, eigentlich eher ein Gässchen, zu schmal für Autos. Schwer bewaffnete Polizisten bewachen den Zugang. Dort, wo eines der Opfer zu Boden ging, liegen Decken, mit denen Mitarbeiter umliegender Geschäfte zu helfen versuchten. Ein paar Meter weiter liegen Einweghandschuhe und ein leerer Infusionsbeutel.

Der Weihnachtsmarkt von Straßburg ist einer der beliebtesten Europas, die Stadt wirbt mit dem Slogan, sie sei die "Hauptstadt von Weihnachten". Der Straßburger Markt ist nicht auf einen großen Platz konzentriert, sondern eher eine Ansammlung von kleineren Märkten, die sich über die Altstadt verteilen. In der Rue des Orfèvres selbst stehen keine Buden. Trotzdem ist die Gasse beliebt bei den Besuchern, weil die Geschäfte dort aufwendig geschmückt sind. Eine Patisserie zum Beispiel hat eine ganze Parade von Plüschtieren auf ihrem Sims untergebracht: Füchse, Hasen, Murmeltiere. Vor allem am Abend, wenn die Stadt weihnachtlich beleuchtet ist, bleiben viele Touristen dort stehen, um ein Foto zu machen.

Genau an dieser Stelle begann Chérif C. seinen mörderischen Streifzug durch die Innenstadt, kurz bevor der Weihnachtsmarkt um 20 Uhr schließen sollte. Staatsanwalt Heitz zufolge schoss er mit einer Handfeuerwaffe um sich, aber auch mit einem Messer verletzte er Menschen. Bei einem Schusswechsel mit der Polizei sei auch der mutmaßliche Täter am Arm verwundet worden. Nach der Tat habe C. ein Taxi gekapert, das ihn in den südlich der Altstadt gelegenen Stadtteil Neuhof brachte. Dort lieferte sich der Täter zwei Feuergefechte mit Sicherheitskräften, die erfolglos versuchten, ihn festzusetzen. Seitdem ist C. auf der Flucht. Die Polizei habe aber noch in der Nacht vier Personen aus dem Umfeld von C. festgenommen, sagte Chefermittler Heitz. Weitere Angaben zu den Personen und zu der Frage, ob sie in die Tat verwickelt sein könnten, machte er nicht.

Der Straßburger Weihnachtsmarkt galt schon vor Dienstag als potenzielles Ziel für Terroristen. Im Jahr 2000 wurde ein Anschlag dort nur knapp verhindert. Darum durften während der Öffnungszeiten des Marktes Autos nur mit Sondergenehmigung auf die Insel. An allen Brücken waren auch am Mittwoch Checkpoints eingerichtet, bei denen Passanten ihre Taschen öffnen mussten; Touristen auch ihre Koffer. Außer der Polizei patrouillierten Soldaten der Antiterroreinheit "Operation Sentinelle", die seit 2015 besonders gefährdete Orte schützen soll. Auch die Rue des Orfèvres liegt innerhalb dieses Sicherheitsbereichs.

Der Anschlag trifft Frankreich in einer äußerst angespannten Situation. Seit vier Wochen kommt es durch Proteste der Bewegung der sogenannten Gelbwesten zu Ausschreitungen im ganzen Land. Die Möglichkeit eines Terrorangriffs war durch diese Ereignisse zwar in den Hintergrund getreten, doch erst am 5. November hatte Innenminister Christophe Castaner betont, dass die "terroristische Bedrohung immer noch extrem präsent" sei. Noch am Dienstagabend machte sich Castaner auf den Weg nach Straßburg, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen.

2018 wurde Frankreich bereits von zwei größeren Angriffen erschüttert. Im März tötete ein 25-Jähriger bei einem Autodiebstahl und einer anschließenden Geiselnahme in einem Supermarkt in den südfranzösischen Städten Carcassonne und Trèbes vier Menschen. Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) reklamierte die Tat für sich. Auch einen Messerangriff in Paris im Mai, bei dem ein Mann erstochen wurde und vier Menschen verletzt wurden, reklamierte der IS für sich.

Das Motiv des mutmaßlichen Täters von Straßburg blieb zunächst unklar. Er soll sich in Haft radikalisiert haben, sagte Heitz, und werde vom Inlandsgeheimdienst als Gefährder geführt. Er zitierte auch Zeugen der Tat, denen zufolge C. "Allahu Akbar" gerufen habe, Gott ist am größten. Es gibt auch Vermutungen, wonach es sich beim Anschlag um eine Verzweiflungstat nach der Wohnungsdurchsuchung am Morgen gehandelt haben könnte.

Deutsche Behörden schoben Chérif C. 2017 nach Frankreich ab

Wie sich aus deutschen Polizeiakten ergibt, ist Chérif C. französischer Staatsbürger mit algerischen Wurzeln. Er hat eine schwierige Biografie, wie sie häufig vorkommt in ärmeren Vororten Straßburgs. C., 1989 geboren, ist mit sechs Geschwistern aufgewachsen, die Schule hat er besucht, bis er 16 Jahre alt war. Dann folgte die Arbeitslosigkeit. Mit 19 Jahren wurde er in Frankreich wegen mehrerer Einbruchsdiebstähle zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Er verließ seine Heimat Richtung Deutschland, trieb sich in der Bodensee-Region herum. Im Februar 2012 brach er einem Urteil des Amtsgerichts Singen zufolge nachts in eine Zahnarztpraxis ein, erbeutete Geld, Briefmarken, Zahngold im Wert von 8200 Euro. 2013 wurde er im nahe gelegenen Basel bei einem Einbruch erwischt und zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt. Zuletzt brach er im Januar 2016 im badischen Städtchen Engen in eine Apotheke ein, wieder brachte ihn das ins Gefängnis. Beute: 315 Euro. 2017 wurde er nach Frankreich abgeschoben.

Mit einem solchen Lebensweg fällt Chérif C. genau in die Zielgruppe, aus der Islamisten gern Attentäter rekrutieren. Anhaltspunkte dafür, dass er tatsächlich mit Islamisten verkehrte, hatten aber zumindest die deutschen Sicherheitsbehörden über all diese Jahre nicht. Aus ihrer Sicht war er stets nur ein einfacher Einbrecher.

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