Terror in Toulouse:Das Land hält den Atem an

Seit fünf Jahren versucht Frankreich, die parlamentarischen Elemente der Republik zu stärken. Fast wäre das Unterfangen geglückt. Doch der Schock von Toulouse hat das Land schlagartig in alte Muster zurückgeworfen - und das Verlangen nach einem besonderen, starken Mann verstärkt.

Joseph Hanimann

Das Außerordentliche schlägt zurück. Seit fünf Jahren sucht Frankreich ein "normales" Land zu werden, und fast wäre das schon geglückt. Die Rede von der Musterrepublik in Person klingt etwas verhaltener, das Land gehört wieder zur Nato, und im Präsidentschaftswahlkampf, diesem Ritual des direkten Blickkontakts zwischen einem Mann und der Nation, hatte ein Kandidat, der als "normaler" Franzose antrat, die besten Aussichten auf den Sieg.

Nicolas Sarkozy

Frankreich ersehnt in der Not die Größe der Nation - und findet sie in Präsident Nicolas Sarkozy.

(Foto: AP)

Manche nennen das die "Sechste", das heißt eine stärker parlamentarische Republik. Doch ein Vorfall von anfänglich undurchschaubarer Natur zwischen Rechtsfanatismus, Terrorismus und Kriminalpathologie hat das Land schlagartig in die Konstellation des Verlangens nach dem besonderen Mann zurückgeworfen.

Die Ermordung der drei Soldaten traf die Republik in ihrer Wehrhaftigkeit, das Massaker an jüdischen Schülern in ihrem Gefühl für die Unschuld. Und der gesichtslose Motorradfahrer unter seinem Schutzhelm rief geradezu nach einem schärferen Profil des höchsten Vertreters des Staats. Der zögernde Kandidat Nicolas Sarkozy konnte und musste zur Gravität des Amtsinhabers zurückkehren.

Dass überdies sein Innenminister sich einstweilen persönlich in Toulouse einquartierte, hat über die operative Nähe zu seinen Leuten hinaus auch die Bedeutung einer personifizierten Notstandssituation. Das Schaltzentrum des Staates ist, was die innere Sicherheit angeht, aus der Kapitale an den Ort des Dramas verlegt worden.

Frankreich blickt gebannt nach Jerusalem und nach Toulouse - den Orten, wo am Mittwoch gleichzeitig mit bewegten Worten in aller Öffentlichkeit die Opfer aus der jüdischen Schule beigesetzt wurden beziehungsweise hinter Absperrungen der mutmaßliche Täter überwältigt werden sollte. Und Frankreich weiß nicht, wohin es zuerst blicken soll.

Rechte fordern Wiedereinführung der Todesstrafe

Das Nahe rückt fern, und der Nahostkonflikt findet wieder in der französischen Vorstadt statt. Jetzt nur kein falsches Wort, brummt es in den Köpfen der Bevölkerung, der Beobachter, der Politiker, während vom Front National schon der Ruf nach Wiedereinführung der Todesstrafe laut wird. Das Land hält den Atem an.

Die mit diesen Ereignissen einhergehende Aussetzung des Wahlkampfs wirkt wie der Film eines Streitgesprächs, von dem der Ton ausgeschaltet ist. Die Bewegungen gehen weiter, der Sinn wird bloß gedacht: aufrichtige Betroffenheit, ernsthaftes Bangen, unvermeidliche Hintergedanken.

Der zeremonielle Überhang, der die République française in ihren Staatsfeiern wie in ihren Prüfungen auszeichnet, offenbart hier seine ganze Bedeutung. Trauer drängt nicht zur Einkehr, Mitgefühl nicht zur Lichterkette, sondern zur Demonstration. Im Ausdrücklichen, nicht im Selbstverständlichen findet Frankreich zum Gemeinschaftsgefühl zusammen. Die "Sechste Republik" kann warten.

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