Süddeutsche Zeitung

Terror in Paris:Henry Kissinger: Europa muss reagieren

"Soft power" könne die Welt nicht heilen, sagt der 92-jährige US-Realpolitiker. Das müsse auch die EU nach den Pariser Anschlägen erkennen. Im Kampf gegen den IS könne auch Putin helfen.

Von Matthias Kolb, Washington

Eigentlich wollte und sollte Henry Kissinger über Iran und den im Sommer verabschiedeten Atom-Deal sprechen. Der 92-Jährige tritt nicht mehr oft auf, doch für das "Global Security Forum" des Washingtoner Thinktanks CSIS macht er eine Ausnahme. Und natürlich dreht sich bei Kissingers Auftritt alles um die Folgen der Pariser Anschläge mit mindestens 129 Toten.

Wenige Stunden zuvor hatte CIA-Direktor John Brennan bei der selben Veranstaltung vor "neuen Morden" gewarnt und die EU-Staaten zu mehr Kooperation aufgefordert - diese habe sich nach dem durch die Snowden-Enthüllungen ausgelösten öffentlichen Entsetzen verschlechtert. Henry Kissinger redet vielmehr über die großen Zusammenhänge: Er sieht Europa vor einer Wegscheide.

Die Anschläge von Paris stünden in einer Reihe mit den Terror-Attacken von 9/11 in New York, Madrid 2004, London 2005 und jenen Angriffen auf die Charlie Hebdo-Redaktion und den jüdischen Supermarkt vom Januar 2015. Doch nun sei das Geschehene so brutal und schockierend, dass es um die Zukunft Europas gehe: Die Flüchtlingskrise stelle die Offenheit der Grenzen in Frage und könne zu "einer kulturellen Veränderung" der ganzen Region führen, so der Ex-Außenminister (unter den US-Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford).

Europa sollte sich stärker militärisch engagieren

Der Republikaner sieht Europa vor großen Herausforderungen - und vor einer Diskussion über die künftige Position in der Welt. Er erwarte, dass Europa über seinen Platz in der internationalen Gemeinschaft nachdenke. In Kissingers Augen reicht es nicht aus, wenn die EU-Staaten "Mitgefühl" zeigen und ansonsten passiv am Seitenrand stehen: "Soft power allein kann die Welt nicht heilen." Mit anderen Worten: Ein strengeres militärisches Engagement sei dringend geboten.

Europa müsse sich entscheiden, wofür es stehe und ob es "als aktives Mitglied der westlichen Gemeinschaft" auf die wesentliche Herausforderung reagieren wolle. Denn in Kissingers Augen bedrohen die Dschihadisten die Werte und sogar die Existenz des Westens. Die jüngsten Aussagen von Frankreichs Präsident François Hollande ("Frankreich ist im Krieg" und der IS muss "zerstört" werden) lassen ahnen, dass manche EU-Politiker ähnlich denken.

Eine Frage zu Russlands Luftangriffen in Syrien verdeutlicht, in welchen Zeitspannen der Friedensnobelpreisträger Kissinger, den Linke wegen seiner Rolle beim Militärputsch in Chile und im Vietnamkrieg für einen Kriegsverbrecher halten, mittlerweile denkt und antwortet. Seit 1973 habe es einen Konsens darüber gegeben, dass die Staatengemeinschaft im Nahen Osten mit militärischen Mitteln wenig erreichen könnten - und die USA hätten die Führungsrolle bei allen diplomatischen Bemühungen übernommen.

Dass Moskau (Kissinger spricht versehentlich von sowjetischem Militär) nun Bomben abwerfe, ohne die USA vorher konsultiert zu haben, ist in seinen Augen von "symbolischer und substanzieller Bedeutung". Der Einfluss und die Möglichkeiten des russischen Militärs seien jedoch begrenzt, so Kissinger.

Er sehe eine Möglichkeit ("oder sogar eine Wahrscheinlichkeit"), dass die USA und der Westen mit Russland im Kampf gegen die IS-Dschihadisten zusammenarbeiten. Allerdings müssten parallel, so Kissingers Einschränkung, Gespräche über die russische Aggression in der Ukraine geführt werden. Am Rande des G-20-Gipfels in der Türkei wurde bekannt, dass Hollande bald mit Obama und Putin beraten will.

Die Frage von CSIS-Chef John Hamre, wieso der Nahe Osten "in Flammen" stehe, beantwortet Kissinger aus der Vogelperspektive. Es handle sich nicht nur um vier parallele Krisen, die Syrien, Irak, Jemen und Libyen destabilisierten, sondern um eine Krise zwischen Bürgern und Regierungen. Fast alle Menschen in der Region hätten das Vertrauen in die Regierenden verloren - am Beginn des syrischen Bürgerkriegs stand auch ein Protest der Jugend gegen das Assad-Regime.

Der IS will die globale Weltordnung umstürzen, sagt Kissinger

Doch wenn die zentralen Institutionen verschwinden oder Schwäche zeigen, dann stelle sich nur selten Demokratie ein, so Kissinger: "Alle anderen Gruppen kämpfen um Vorherrschaft oder um ihre Selbsterhaltung." Und da die Grenzen im Nahen Osten nicht natürlich seien, sondern willkürlich nach dem Ersten Weltkrieg gezogen wurden, seien Nachbarstaaten sofort betroffen.

Die IS-Miliz sei auch deswegen so gefährlich, weil ihre Mitglieder Grenzen überschritten und für ein weltweites Kalifat kämpften. Mit ihren "schockierend brutalen Taten" wolle der IS die globale Weltordnung umstürzen.

Kurz geht Kissinger auch auf die Lage in Iran ein: Er sieht das Land gespalten zwischen den Älteren, die am revolutionären Anspruch festhielten, und der jüngeren Generation, die sich am Westen und internationalen Trends orientiere. Er glaube aber trotzdem nicht daran, dass man außerhalb Irans nur lang genug warten müsse, bis die Revolutionäre gestorben seien.

Neue Akteure wie Indien und China müssen einbezogen werden

Mit direkten Tipps an den aktuellen Präsidenten (Kissinger hält wenig von Obamas Außenpolitik) sowie die vielen Bewerber fürs Weiße Haus hält sich der 92-Jährige zurück. Die Welt habe sich grundlegend verändert und zeichne sich nun dadurch aus, dass alles fließend und unübersichtlich sei. Während des Kalten Krieges hätten die Präsidenten stets auf kurze, höchst gefährliche Bedrohungen reagieren müssen - nach deren Lösung kehrte wieder Stabilität ein.

Heute lauerten die Gefahren überall. Kissinger mahnt zudem, sich auf die veränderte Realität einzustellen: "Unser Denken ist zu stark fokussiert auf eine Welt, die nach dem Zweiten Weltkrieg von ein paar Europäern gemacht wurde." Es sei dringend nötig, sich auf neue Akteure einzuteilen - neben China sei dies auch Indien, wo 170 Millionen Muslime leben. "Indien wird eine aktivere Rolle in Nahost spielen, weil die Radikalisierung dort ihre eigene Zukunft mitbestimmt".

Einen Seitenhieb gibt er den Präsidentschaftsbewerbern dann doch noch mit: Es wäre schlau, wenn diese nicht ständig davon reden würden, was sie "am ersten Tag im Amt" alles tun würden. Die Wahlkämpfe würden durch Reaktionen auf Umfragen bestimmt - doch in der Außenpolitik gehe es um ganz andere Zeitspannen.

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