Süddeutsche Zeitung

Terror in Paris:Anschläge in Paris: Wie Frankreich seine wichtigste Zeugin im Stich lässt

Eine junge Frau verriet der Polizei im November das Versteck des Terroristen Abdelhamid Abaaoud. Nun erhebt sie schwere Vorwürfe gegen die Regierung.

Von Paul Munzinger

Nach den Pariser Anschlägen vom 13. November des vergangenen Jahres richtete die französische Polizei eine Telefonnummer für Hinweise und Terrorwarnungen ein: 197. Sonia wählte diese Nummer am 16. November. Zwei Tage später stürmte die Polizei das Versteck von Abdelhamid Abaaoud im Pariser Vorort Saint-Denis. Der mutmaßliche Drahtzieher der schlimmsten Anschläge der französischen Geschichte wurde getötet, bevor er noch mehr Unheil anrichten konnte.

Frankreich hat der jungen Frau viel zu verdanken. Doch der französische Staat, so empfindet das Sonia, hat seine wichtigste Zeugin im Stich gelassen.

Zehn Wochen nach dem Anruf, der ihr Leben wohl für immer veränderte, hat Sonia sich nun in einem Fernsehinterview öffentlich geäußert. Ihr Gesicht ist nicht zu sehen, ihre Stimme ist verzerrt. Auch ihren echten Namen und ihr Alter erfährt man nicht. Nur soviel ist bekannt: Sonia war eine enge Freundin von Hasna Aït Boulahcen, der Cousine Abaaouds. Zwei Tage nach den Anschlägen saßen die beiden jungen Frauen zusammen, als Hasnas Handy klingelte, eine belgische Nummer. Sie müsse jemanden treffen, der eine Unterkunft brauche, sagte der Anrufer. Treffpunkt sei ein Grünstreifen unterhalb einer Autobahnbrücke nördlich von Paris.

"Die Terrassen, das war ich"

Als Sonia und Hasna eintrafen, kam ein Mann aus dem Gebüsch: Es war Abaaoud, mit orangen Turnschuhen und einem Lächeln auf den Lippen. "Er erinnerte überhaupt nicht an einen Terroristen", sagt Sonia. Trotzdem habe sie Abaaoud direkt gefragt, ob er etwas mit den Anschlägen zu tun habe. "Die Terrassen, das war ich", habe er ohne erkennbare Emotion geantwortet. Und: "Es ist noch nicht vorbei." Abaaoud bat seine Cousine, ihm ein Versteck zu besorgen. Sie verschaffte ihm die Wohnung in der Rue du Corbillon in Saint-Denis.

Abaaoud habe von den Anschlägen erzählt, als berichte er von einem Einkauf im Supermarkt, sagt Sonia. Er sei stolz auf sich gewesen. Und er habe weitere Anschläge in Paris geplant, auf ein Einkaufszentrum, ein Kommissariat und eine Kinderkrippe im Stadtteil La Défense. Diese Pläne hat Sonia mit ihrer Aussage vermutlich vereitelt. Er sei ohne Papiere aus Syrien zurück nach Frankreich gekommen, habe Abaaoud außerdem geprahlt - und mit ihm angeblich eine Gruppe von 90 weiteren Dschihadisten aus Syrien, dem Irak, Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Diese befänden sich noch immer in Frankreich, sie seien über den Großraum Paris verstreut.

Sonia habe ihre Freundin Hasna gedrängt, die Polizei zu benachrichtigen. Diese habe sich geweigert, Abaaoud sei schließlich ihr Cousin. Also wählte Sonia die 197. Beim anschließenden Polizeieinsatz wurden nicht nur Abaaoud und ein weiterer Islamist getötet, sondern auch Hasna Aït Boulahcen.

Zeugin Sonia: "Ich habe kein Leben mehr"

Die wichtigsten Informationen in Sonias Aussagen sind in Frankreich seit Dezember bekannt. Dass nun dennoch heftig über das Interview diskutiert wird, liegt an dem, was Sonia über sich selbst erzählt. Über ihr Leben seither, oder besser über das, was davon übrig ist. Nach ihrer Aussage am 16. Dezember brachten die französischen Behörden Sonia zunächst von einem Hotel ins nächste, ehe sie in ein anderes, unbekanntes Departement verlegt wurde. Allein. "Man hat mich vom Rest der Welt abgeschnitten", berichtet Sonia. Sie habe ihre Arbeit, ihre Freunde, ihre Familie verloren. "Ich habe kein Leben mehr."

Es ist ein hoher Preis, den die wichtigste Zeugin des Landes für ihre Sicherheit bezahlen muss. Die Frage ist nun, ob Sonia überhaupt sicher ist. Vom Staat erhalte sie weder Geld noch psychologische Betreuung, sagt Sonia, und vor allem: Er beschütze sie nicht. Keine Polizisten bewachten sie, man habe ihr nur ein Handy und eine Nummer für Notfälle gegeben. Ohne Schlafmittel liege sie nachts wach, beim kleinsten Geräusch bekomme sie es mit der Angst zu tun.

Sie fühle sich verlassen und bedroht, sagt Sonia. Ihr echter Name stehe nach wie vor auf ihrem Personalausweis. Und er findet sich - ebenso wie ihre Adresse - auch in den Akten, die für die Anklage, für die Medien und auch für alle von den Ermittlungen betroffenen Personen einsehbar sind - unter anderem auch für den Eigentümer der Wohnung in Saint-Denis, in der Abaaoud sich zuletzt versteckt hielt. In dessen Befragung soll sich gar ein Polizist verplappert und Sonias echten Namen verraten haben. Die Brüder von Hasna, das berichtet unter Berufung auf einen Antiterrorpolizisten die Zeitung Libération, hätten bereits versucht, Sonia aufzustöbern. "In den Augen radikaler Islamisten ist sie eine Person, die man umlegen muss, weil sie einen Helden verkauft hat."

Ein Zeugenschutzprogramm gibt es in Frankreich nicht - bisher

Demnächst soll in Frankreich ein Programm ins Leben gerufen werden, das wichtige Zeugen in heiklen Verfahren wirksam schützen soll. Bisher gibt es das nicht. Nur einstige Mittäter, die als Kronzeugen auspacken, zum Beispiel aus dem Umfeld des organisierten Verbrechens, erhalten eine neue, bezahlte Wohnung, eine neue Identität und Polizeischutz. Sonia, als "unschuldige Zeugin", erhielt all das nicht. Auch die Möglichkeit, anonym auszusagen, wurde ihr verwehrt - offenbar, weil die Behörden ihrem Bericht zunächst misstrauten. Sie hätten sie für einen "Clown" gehalten, sagt Sonia.

Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve wollte sich bisher nicht direkt zu den Vorwürfen äußern. Er habe eine Verantwortung, sagte er, und am besten schütze er Sonias Leben, indem er schweige. Doch nicht nur die Behörden sind nach der Ausstrahlung des Interviews in Erklärungsnot, auch die Fernsehsender RMC und BFM TV sind in die Kritik geraten. Wer das Interview ausstrahle, bringe Sonia dazu, ein Risiko einzugehen, sagte Innenminister Cazeneuve. Sonia habe sich von sich aus an sie gewandt, entgegnen die Journalisten, denen nun womöglich ein Prozess droht: Die Pariser Staatsanwaltschaft hat am Donnerstag Ermittlungen gegen den Sender und einen Journalisten von Le Point eingeleitet, weil sie die Zeugin enthüllt und so ihr Leben in Gefahr gebracht hätten.

Sonia sagt, sie bereue ihre Aussage nicht - trotz allem. Sie lebe schlecht, aber besser "als mit dem Tod unschuldiger Personen auf dem Gewissen".

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