Terror in Paris:Ahnungsloser Vorbeter aus der Banlieue

Terror in Paris: Imam Brahim El Khoul (rechts): Trauer über die Attentate, Ärger über Fragen nach dem Attentäter

Imam Brahim El Khoul (rechts): Trauer über die Attentate, Ärger über Fragen nach dem Attentäter

(Foto: AFP)
  • Der Attentäter Ismaël Omar Mostefaï, der im Club Bataclan erst auf Menschen schoss, bevor er sich in die Luft sprengte, radikalisierte sich angeblich in Chartres, eine Stunde von Paris entfernt.
  • Der dortige Imam gibt eine Pressekonferenz, die fast im Tumult endet.

Von Thomas Hummel, Chartres

Die Banlieue La Madeleine von Chartres. Eigentlich gar nicht so übel. Rechts liegt ein schicker, kleiner Bolzplatz mit Kunstrasen und Basketballkörben. Die Sonne strahlt in die weitläufigen Straßen hinein. Die Hochhäuser sind fast alle weiß gestrichen. Groß ist die Banlieue ohnehin nicht, 200 Meter geradeaus, 200 Meter nach rechts, schon ist man wieder draußen. Die Autos fahren langsam, eine ältere Frau schiebt ihren Rollator, fünf Kinder im Grundschulalter kommen aus einer Tür, ein Mädchen grüßt freundlich: "Bonjour." Sie singt es fast.

An diesem Sonntagnachmittag macht La Madeleine einen sehr friedlichen Eindruck.

Das ist die Sozialbausiedlung, wo sich der Attentäter Ismaël Omar Mostefaï in den Jahren 2004 bis 2012 oft herumgetrieben hat. Als er sich wohl so radikalisierte, dass er zum Mörder wurde.

"Er war vielleicht ein bisschen kühl, aber sonst ein recht normaler Typ", sagt eine junge Frau. Sie kannte Mostefaï, "wie man eben die Leute im Viertel kennt". Sie steht am größeren Spielplatz zwischen den letzten Hochhäusern, wo ein paar Kinder gerade laut lachen. Auf der anderen Seite der Straße liegt das Complexe sportif de la Madelaine mit zwei Hallen und mehreren Fußballfeldern. Hoffnungslosigkeit, Tristesse, Brutstätte des Terrors?

Attentäter aus dem Mittelstand

Mostefaï wohnte nicht in den Hochhäusern. Wollte er seine Kumpels treffen, musste er herüberfahren aus der Mail Anatole France, einer Sackgasse inmitten von Einfamilienhäusern. Freistehende Gebäude, einstöckig, cremefarben gestrichen, die meisten Gärten gepflegt. Vor einer Garage steht ein Wohnmobil. In dieser Welt des französischen Mittelstands wohnte er nach Aussage von Nachbarn zusammen mit seinen Eltern, zwei Schwestern und zwei Brüdern. Zwischen 2004 und 2008 wurde er achtmal wegen kleinerer Delikte verurteilt. Im Jahr 2010 wurde er Vater einer Tochter.

Am 13. November 2015 drang Ismaël Omar Mostefaï zusammen mit zwei Komplizen und einer Kalaschnikow in der Hand in den Pariser Konzertsaal Bataclan ein und schoss in die Zuschauer. Er ermordete oder verletzte vermutlich mehrere Menschen, dann sprengte er sich selbst in die Luft. Insgesamt kamen im Bataclan 89 meist junge Besucher ums Leben, einige schweben noch in Lebensgefahr.

Ein älterer Herr mit weißem Haar humpelt mehr als er geht die Straße entlang, hat eine leere Obstpalette in der Hand, und kann es gar nicht glauben. Hier soll ein Attentäter gewohnt haben? Kann nicht sein. In dieser heilen Welt? Ja, drüben zwischen den Hochhäusern, da gehe es abends schon mal heiß her. "Vor einigen Jahren haben Autos gebrannt", erzählt er. Es würden bisweilen Leute beklaut von "diesen Jugendlichen mit Kapuzen". Andererseits berichtet die Zeitung International Business Times, dass mehrere Bewohner der Mail Anatole France einen zweiten Dschihadisten kannten, der nur wenige Meter von Mostefaï entfernt gewohnt habe und im Juni bei Kämpfen in Syrien getötet worden sei.

Crème brûlée und Debatten über die Ungerechtigkeiten der Welt

Ist Chartres, Präfekturhauptstadt des Departements Eure-et-Loir, eine gute Stunde südwestlich von Paris, ein Nest von radikalen Islamisten?

Eine Spur führt zur anderen Seite von Chartres, in den Vorort Lucé. Unter Berufung auf Ermittlungskreise berichteten Medien am Sonntagmorgen, dass Mostefaï dort bis 2012 regelmäßig eine Moschee besuchte.

Der Weg dorthin führt an der römisch-katholischen Kathedrale von Chartres vorbei, die groß und mächtig über der Stadt thront und wo Kunststudenten die gotische Bauweise studieren. Karl der Kahle hat hier im Jahr 876 eine Kirche geweiht, das heute stehende Bauwerk wurde im 13. Jahrhundert fertiggestellt. Es ist Bischofssitz und gehört zum Weltkulturerbe. Rund um die Kathedrale schlängeln sich die Gassen der mittelalterlichen Altstadt, Touristen und Einheimische löffeln im Salon de Thé ihre Crème brûlée und debattieren über die Ungerechtigkeiten der Welt.

Adresse: Rue du Paradis

Es geht wieder Richtung Stadtgrenze, die Moschee steht an der Rue du Paradis. Ausgerechnet. Die Adresse ist allerdings äußerlich das Einzige, womit sie hier angeben können. Der Kontrast zum katholischen Gotteshaus drüben könnte nicht größer sein.

Das Gebäude ist beige gestrichen, hat ein rotes Ziegeldach und ist so groß wie eine Autowerkstatt. Auf der anderen Seite der Rue du Paradis parken ein Dutzend Autos, Reporter aus vielen Ländern haben Kameras aufgestellt und Mikrofone dabei. Im letzten Fenster im ersten Stock lugen Männer mit Bärten hinter dem Vorhang hervor. Sie scheinen sich zu beraten. Und beschließen, die Kameras und Mikrofone in ihre Moschee zu lassen. Der Imam gibt eine Pressekonferenz.

Die Gemeinde wirkt beeindruckt, die Gäste ratlos

Karim Benayad, ein 31-Jähriger mit schwarzem Kinnbart, der sich als Vizepräsident der Moschee in Lucé vorstellt, kommt aus dem Haus: "Wir sind eine solche Situation nicht gewohnt, bitte haben sie Respekt vor dem Gebetsraum." Er führt die Gäste zum Hintereingang und in den ersten Stock. Alle müssen die Schuhe ausziehen, es gibt Saft und Stühle. Die BBC ist hier, Amerikaner, Japaner, Franzosen, Deutsche. Sie drängeln sich in Strumpfsocken in den Gebetsraum. Kurz darauf ertönt das Abendgebet des Imam über Lautsprecher, dann kommen die Oberhäupter der Gemeinde und ihre Gläubigen durch eine weiße Tür herein.

Imam Brahim El Khoul legt los - nur leider versteht ihn niemand, er redet Arabisch. Zehn, 15 Minuten lang hält er eine emotionale Rede, vielleicht auch eine Predigt, wird immer lauter, bis seine Stimme im Raum hallt. Die Gemeinde wirkt beeindruckt, die Gäste ratlos. Vizepräsident Benayad soll übersetzen, vergisst aber anfangs, mitzuschreiben. So gerät seine Erklärung etwa 120 Sekunden lang.

Der Imam sage, er verurteile die Attentate. Er habe geweint, als er es im Fernsehen sah. Und das Thema, weshalb alle gekommen sind? War Ismaël Omar Mostefaï in dieser Moschee? Ach, stimmt ja. "Nein, wir kennen ihn nicht", sagt Benayad.

Vom alten Imam fehlt angeblich jede Spur

Jedoch seien Imam und Vorstand erst seit März 2013 aktiv, vorher habe ein anderer Imam gewirkt, ein gewisser El-Haoussim El-Barahaz aus Marokko. Doch dieser habe keine Aufenthaltsgenehmigung gehabt, und so haben sie ihn rausgeworfen. Es sollen sogar Anwälte im Spiel gewesen sein. Also gab es hier vor März 2013 radikale Gruppen? Nein, nein, so sei das nicht gemeint. "Aber wir waren da noch nicht im Amt." Können Sie ausschließen, dass Mostefaï vor 2013 hier war? "Die Moschee ist offen, jeder kann kommen. Aber hier kennt ihn niemand." Wo ist der alte Imam? "Wissen wir nicht." Stimmen Berichte, dass ein in Belgien lebender Marokkaner in Chartres versucht habe, Mostefaï und andere zu radikalisieren? Davon wissen sie auch nichts.

Die Pressekonferenz endet fast im Tumult. Die Antworten sind vage, die Erklärungen diffus. Einige Männer aus der Gemeinde schimpfen auf den Bürgermeister von Chartres, Jean-Pierre Gorges, der den Namen der Moschee an die Presse gegeben, und dem man den Aufruhr nun zu verdanken habe. Während die andere Moschee der Stadt nun fein raus sei.

In einer Ecke des Gebetsraums sitzt eine Gruppe Jugendlicher, vielleicht zwischen 13 und 18 Jahren. Und schauen zu, in welche Welt sie da gerade hineinwachsen.

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