Im Juli 2016 ist Amri in eine Auseinandersetzung in einer Bar in der Hertastraße in Berlin-Neukölln verwickelt, ein Streit im Drogenmilieu. Hier verdient Amri sein Geld. Ein Komplize von ihm sticht zu, Amri gibt zwei Schläge mit einem Gummihammer ab. Es gibt Verletzte. Amri bekommt Angst, ruft seine Familie in Tunesien an, er habe "Stress" in Deutschland und wolle raus aus dem Land. Die Polizei hört das Gespräch mit und holt ihn am 30. Juli um 0.11 Uhr in Friedrichshafen aus dem Flixbus 006 nach Zürich. Amri hat gefälschte italienische Papiere dabei, aber ein Haftrichter lässt ihn laufen. Der Tunesier erzählt, er sei auf dem Weg zu einer Hochzeit in Tunis gewesen. Seiner eigenen.
Die Ausreise, vielleicht ist es eher eine Flucht, ist jedenfalls gescheitert. Nach kurzer Haft taucht Amri wieder in Berlin auf, kehrt zurück in die Drogenszene.
Am 21. September beendet die Staatsanwaltschaft Berlin die Telefonüberwachung. Monatelang wurde Amri überwacht, ohne Ergebnis. Hinweise auf einen Anschlag haben sich nicht gefunden. Kein Richter, so befürchtet die zuständige Berliner Generalstaatsanwaltschaft, würde jetzt noch einmal eine neue Anordnung für die Überwachung unterschreiben. Dieser Amri hat die Behörden nun sehr lange beschäftigt. Seine frühen Drohungen, einen Anschlag zu begehen, wurden stets als unwahrscheinlich eingestuft - und die Ermittler fühlen sich bestätigt. Ist er auch einer dieser Maulhelden?
Später wird die Justiz notieren, was aus ihrer Sicht alles dafür spricht, dass der Tunesier sich für eine Karriere als Krimineller und nicht als Terrorist entschieden habe. Amri wohne mit zwei Männern zusammen, die während des Ramadan Alkohol trinken und das Fastenbrechen nicht einhalten. In Moscheen sei Amri kaum noch gesehen worden. Dafür umso häufiger am Kleinen Tiergarten oder nahe des Treptower Parks, bekannte Umschlagplätze für Dealer.
Die Drogen-Erkenntnisse werden noch ausgewertet, aber ab diesem 21. September überwacht niemand mehr Anis Amri. Es gibt auch keine Auflagen nach dem Ausländerrecht, keine regelmäßigen Kontrollen, wo er überhaupt ist und was er macht. Amri bleibt unbehelligt, was eine Untersuchungskommission des Bundestages inzwischen als Fehler gerügt hat. Denn erst jetzt beginnt seine Reise in den Dschihad.
Am 5. Oktober wendet er sich an einen libyschen Glaubensbruder, der offenbar beim IS ist. "Ich will zu euch auswandern, sag mir, was ich tun soll", schreibt er. "Ich bin jetzt in Deutschland." Sein Gesprächspartner fordert ihn auf, einen verschlüsselten Account des Messenger-Dienstes "Telegram" anzuwählen. Bis heute ist unklar, was dort verabredet wurde.
Es ist eine der Leerstellen der Ermittlung, die sich vermutlich nie mehr werden füllen lassen. Was wird besprochen zwischen Amri und den Instrukteuren des IS? Es geht dann jedenfalls sehr schnell. Am 31. Oktober und am 1. November ist Amri ausweislich der Google-Daten auf der Kieler Brücke in Berlin-Moabit. Es ist der Ort, an dem er den sogenannten Treue-Eid auf den IS ablegt - das Video wird nach der Tat vom IS veröffentlicht werden. Amri spricht von einer "Botschaft an die Kreuzfahrer", die Muslime würden kommen und "die Schweine abschlachten". Zwischendurch schaut er in den Himmel. Amri trägt Kopfhörer, als spreche jemand den Text vor.
Amri fügt sich nun ein in die Strategie des IS: Bleibt zu Hause und schlagt dort zu. An vielen Orten in Europa ist die Konsequenz dieser neuen Linie zu beobachten. Die Zahl der Ausreisen nach Syrien und in den Irak geht zurück, die Zahl der Anschläge in Europa aber steigt. Womöglich ist es nicht einmal Zufall, dass Amri den Anschlag mit einem Lastwagen begeht. Auf der Strandpromenade in Nizza hat der IS dies bereits erprobt, am 14. Juli 2016, dem französischen Nationalfeiertag. 86 Menschen starben.
Deutschland, das jedenfalls ist gesichert, will der IS auf die gleiche Weise treffen. Als der 17-jährige afghanische Flüchtling Riaz A. sich ebenfalls im Juli an einen IS-Instrukteur wendet, drängt dieser ihn: "Bruder, wäre es nicht besser, es mit einem Auto durchzuführen? So wird die ganze Welt erneut aufgewühlt werden." Riaz A. lehnt ab, er hat keinen Führerschein. Stattdessen attackiert er Fahrgäste in einem Vorortzug bei Würzburg mit der Axt.
Amri hat einen Führerschein. Er kann sogar Lkw fahren. Er darf nur nicht mehr abspringen. Am 10. November schickt ihm ein IS-Mann ein PDF-Dokument, 143 Seiten, der Titel lautet: "Die frohe Botschaft zur Rechtleitung für diejenigen, die Märtyrer-Operationen durchführen." Das lange Papier soll Attentätern die letzten Zweifel nehmen und widerlegt angeblich "Scheinargumente" gegen den Dschihad. Dass der Tod auch Kinder, Frauen und Alte treffe, sei völlig in Ordnung. Schließlich hätten die sich der Zustimmung von Massakern des Westens an unschuldigen Muslimen schuldig gemacht.
Wenn Amri, der gern bis Mittags im Bett liegt, nun googelt, dann finden sich immer öfter islamistische Inhalte. Das gezogene Schwert. Der Kampf um einen syrischen Militär-Flughafen. Die Schlacht um Mosul. Zwischendurch dann wieder Manuel Ferrara und all die anderen Porno-Größen. Bis dies am 22. November um 5.53 Uhr endet. Jetzt beginnt die letzte Phase der Tatvorbereitung.
Fast täglich ist er nun am Friedrich-Krause-Ufer unterwegs, einer schmalen Straße am Berliner Westhafen, wo Lastwagenfahrer gern die Nacht verbringen. Es ist der Ort, an dem er später den Lkw kapern wird. Amri sendet Geld nach Hause, 4000 Euro an die Eltern, 500 an einen Neffen. Er wird es nicht mehr brauchen. Zwischendurch schickt sein IS-Kontakt einen Link zu einem sogenannten "Naschid". Das sind martialische Kriegsgesänge, mit denen Islamisten in die Schlacht ziehen.
Von all dem bekommen die vielen Behörden, die sich so lange um diesen Amri gekümmert haben, nichts mehr mit. Im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum ist er am 2. November zum letzten Mal Thema, in der 1444. Sitzung der Arbeitsgemeinschaft "Operativer Informationsaustausch". Grund sind Warnungen des marokkanischen Geheimdienstes, Amri plane etwas. Aber niemand nimmt das sonderlich ernst. Das Protokoll der Sitzung hält fest, dass alle Behörden "in eigener Zuständigkeit" die Maßnahmen gegen Amri fortsetzen sollen. Die entscheidende ist, dass er nun endlich nach Tunesien abgeschoben werden soll. Aber die dortige Regierung hat die dafür notwendigen Papiere immer noch nicht übersandt.
Am 19. Dezember soll der Weihnachtsmarkt wie immer um elf Uhr öffnen. Amri, so wird es später sein Mitbewohner aussagen, ist früh auf den Beinen, nimmt am gemeinsamen Morgengebet um sechs Uhr teil. Ein Fanatiker sei er gewesen, der ständig auf Youtube IS-Propaganda anschaute. Der Vermieter hat Amri deshalb gekündigt, er will keine Extremisten. Zum zweiten Weihnachtsfeiertag muss Amri raus. Aber den wird er nicht mehr erleben.
Gegen Mittag verlässt Anis Amri die Wohnung, isst gegen 16 Uhr in einem Imbiss, fährt für eine Stunde ans Friedrich-Krause-Ufer und schließlich zum Beten in die inzwischen verbotene Fussilet-Moschee. Eine von der Polizei installierte Observationskamera zeichnet auf, wie er um 18.38 Uhr ankommt und um 19.08 Uhr wieder geht. Aber die Bilder werden erst nach der Tat ausgewertet.
Von der Moschee ist es nur ein kurzer Fußweg bis zum Friedrich-Krause-Ufer. Amri hat eine Pistole in der Tasche. Sein IS-Instrukteur ist online. Amri schreibt: "Bleib in Kontakt mit mir." Der antwortet: "So Gott will."
Der Lkw der Marke Scania parkt an Laterne Nummer 16. Amri drückt die Klinke an der Fahrerseite herunter und erschießt Urban. Ausweislich des Tatortberichtes muss der Fahrer auf dem kleinen Bett in der Kabine gelegen und noch den Vorhang zur Seite gezogen haben, um zu sehen, wer da ist. Nach dem Mord schreibt Amri: "Bruder alles hat erfolgt." Wenig später: "Bruder alles ist in Ordnung. Gepriesen sei Gott. Ich bin jetzt in der Karre, verstehst du. Bete für mich Bruder." Um 19.49 Uhr antwortet der Mentor: "Gott sei Dank." Amri antwortet um 20 Uhr: "Mach für mich Bittgebete. Bitte mein Lieber, bete für mich." In das Navigationsgerät seines Handys gibt er eine Adresse ein, die er zuvor auf einem Zettel sorgsam notiert hat. Sie lautet: "Hardenbergstr.".
Amri hat nach der Tat noch vier Tage zu leben. Seine Flucht endet im Vorort Sesto San Giovanni im Norden Mailands. Eine Polizeikugel streckt ihn nieder. Bei der Obduktion werden in Amris Haaren Spuren von Kokain und Tetrahydrocannabinol, einem Cannabis-Wirkstoff, entdeckt. Der Drogenhändler konsumierte sein eigenes Produkt. Womöglich hat sein Tod noch Schlimmeres verhindert: Nach den Feststellungen der deutschen Ermittler war der Anschlag in Berlin eine sogenannte "Inghimasi"-Operation. Inghimasi heißt der "Stürmer" oder auch der "Eintauchende". Es ist eine Art des Mordens, die der Mörder überleben darf - um ein weiteres Mal eingesetzt zu werden.