Terror, Flucht, Krisen:Europa in seiner schwächsten Stunde

Europa

Eine europäische und zwei deutsche Flaggen in Berlin.

(Foto: AP)

Terror, Flüchtlingskrise, wankende Wirtschaft: 2015 wird als Epochenjahr in die Geschichte Europas eingehen. Warum es mehr denn je auf Deutschland ankommt.

Von Stefan Kornelius

Eine Woche nach den Terrortaten von Paris ist das Ausmaß der neuen Bedrohung ins Bewusstsein der politischen Führung Europas gesunken. Nach den ersten kraftmeierischen Auftritten kommt nun die Zeit der Strategen, die Aufwallung und Aktionismus in geordnete Bahnen lenken müssen. Selten waren die Zwänge so groß. Die angespannte Stille von Washington bis Warschau zeugt von dem Druck, die auf den Akteuren lastet.

Die Komplexität der Krise ist unvergleichbar: Nicht nur hat der dschihadistische Terror seine Stärke demonstriert. Der Anschlag trifft Europa auch in einer Zeit außergewöhnlicher Schwäche. Die Flüchtlingskrise zermürbt viele Nationen, Deutschland inklusive. Der Zusammenhang zwischen Flucht und Terror ist unbestritten. Beide haben dieselbe Wurzel: den Staatszerfall, besonders in Syrien.

Russland und der Westen teilen nicht diesselben Kriegsziele

Europa und auch die USA haben den Krieg in Syrien bisher weitgehend von sich ferngehalten. Wenn überhaupt sollte er eingedämmt werden. Der IS hat nun wissen lassen, dass er da nicht mitspielt. Verkompliziert wird das Kriegsszenario durch Russland, das mit seinem Eintritt in das Gemetzel an der Seite Baschar al-Assads die Gewichte deutlich verschoben hat. Russland und der Westen teilen aber nicht die Kriegsziele. Moskau geht es vor allem um die Stabilisierung des Regimes (wenn auch nicht unbedingt um die Figur an seiner Spitze). Selbst nach dem Bombenanschlag auf das russische Passagierflugzeug über dem Sinai wird Moskau seine Kriegsziele nicht zwingend ändern.

Eine Annäherung wird erschwert, weil der Westen seiner Russland-Politik im Schatten des Ukraine-Krieges treu bleiben will. Im Januar steht die Verlängerung der Sanktionen an, die bis zur Umsetzung des Abkommens von Minsk wirken sollten. Auch wenn Moskau das Interesse am Krieg im Donbass gerade verliert - der Frieden kommt dennoch nicht.

Noch nie war die Gemeinschaft der Europäer so schwach

Viele europäische Staaten wie Spanien oder Italien wollen die Sanktionen nun schnell aussetzen, besonders die Osteuropäer sind skeptisch. Der mutmaßliche Kompromiss: Die nächste Überprüfung findet bereits in wenigen Monaten statt. Dann wird man etwas liefern müssen.

Unruhe hat auch Frankreichs Präsident François Hollande gestiftet, der kommende Woche zuerst in Washington und dann in Moskau über die Syrien-Strategie berät. Die hohen Beamten seines Außenministeriums beschwichtigen die Verbündeten und geben eine klare Linie aus: Man könne die Ukraine-Prinzipien aufrecht erhalten und gleichzeitig in Syrien eine Kooperation mit den Russen versuchen. Vorausgesetzt, Putin stimmt zwei Bedingungen zu: Kriegsziel Nummer eins ist der "Islamische Staat", und Assad muss nach einer Übergangsperiode weichen.

Die europäische Wankelmütigkeit gegenüber Russland steht beispielhaft für die eigentliche Sorge, die zurzeit in den Staatskanzleien des Kontinents grassiert: Noch nie zuvor in seiner Geschichte war die Gemeinschaft der Europäer so schwach. Joschka Fischer, das außenpolitische Orakel von Berlin, raunt, dass Europa vor der Entscheidung zwischen Selbst- oder Fremdbestimmung stehe.

Anti-europäische Bewegungen sind auf dem Vormarsch

Die Euro-Krise zeugt derweil von gewaltiger ökonomischer Schwäche; noch immer ist die Gefahr für den Währungs- und Wirtschaftsraum nicht gebannt. Außerdem hat die Flüchtlingskrise den zweiten, tragenden Pfeiler der europäischen Zusammenarbeit ins Wanken gebracht: die Freizügigkeit, die sich hinter dem Wort Schengen verbirgt.

Überall profitieren extreme Parteien von der Unsicherheit. In Polen sammelt sich eine neue antieuropäische Bewegung. Großbritannien steht in der Gefahr, dass das EU-Referendum zu einem Votum über die Abschottung von der gefährlichen Welt wird. Die Gefahr für einen Austritt des Königreichs war nie so hoch.

"2014 und 2015 werde als Epochenjahre in die Geschichte eingehen"

Nun hat die Vielfachkrise auch die letzte Bastion der Stabilität erreicht: Deutschland mit seiner Kanzlerin. Angela Merkels Flüchtlingspolitik, die zunächst bedingungslose Großzügigkeit verhieß, hat bei den Verbündeten Unverständnis bis offene Aggression ausgelöst. Hohe Beamte der Bundesregierung berichten von offener Feindseligkeit in Treffen mit ihren europäischen Partnern. Sachliche Probleme werden wieder mit persönlichen Animositäten vermischt.

Es ist Zahltag in Europa - diesmal ist Deutschland dran. Im Weißen Haus fragt man besorgt nach der Stabilität der Regierung und was man zum Schutz Merkels tun könne. Der Economist schreibt von der "unverzichtbaren Europäerin". Wankt Deutschland, dann wankt Europa. "2014 und 2015 werden als Epochenjahre in die Geschichte eingehen", sagt ein tief in die Entscheidungsprozesse eingebundener Politiker. Seinen Namen nennen will er nicht. Die Probleme müssen nicht noch mehr Gewicht bekommen. Denn so viel Krise war selten seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

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