Gegen 19.30 Uhr am Abend der Tat bemächtigt sich der Tunesier Anis Amri eines schwarzen Lastwagens in Berlin. Er schießt dem polnischen Lkw-Fahrer in den Kopf und setzt sich ans Steuer. Dann fährt er zum Breitscheidplatz in Berlin, zum Weihnachtsmarkt, wo sich gerade Hunderte Besucher drängen. Amri wirft einen Blick auf die Buden, dreht dann allerdings - so zeigen es später die GPS-Daten - noch einmal ab, fährt eine Schleife durch die Innenstadt.
Er chattet aus dem Führerhaus, nur Minuten vor der Tat schreibt Amri an einen Glaubensbruder, bei dem es sich womöglich um einen am Mittwoch in Berlin festgenommenen Tunesier handeln könnte: "Mein Bruder, alles in Ordnung, so Gott will. Ich bin jetzt im Auto, bete für mich mein Bruder, bete für mich." Amri verschickt noch ein Selfie von sich im Führerhaus des Lkw. Erst dann, gegen 20 Uhr, nimmt er endgültig Kurs auf sein Ziel, rast mitten in die Menschenmenge, tötet ein Dutzend Menschen, bis die Unfallautomatik der Zugmaschine ausgelöst wird und den Lastwagen zum Stehen bringt.
In den Akten werden ständig wechselnde Wohnsitze genannt
Amri springt aus dem Fahrerhaus und flieht. Sein Handy, Marke HTC, wird man später vor der Stoßstange des Lkws finden, womöglich ist es bei der starken Bremsung durch die Windschutzscheibe geflogen. Die Ermittlergruppe "City" findet auch seine Geldbörse mit 230 Euro sowie eine Aufenthaltsgenehmigung - ausgestellt auf den Namen Ahmed Almasri. Es ist eine von acht verschiedenen Personalien, die Amri je nach Anlass und Zweck nutzte, seit er im Juli 2015 nach Deutschland kam. Die Behörden kannten alle diese Alias-Namen schon vor der Tat.
Was die Behörden wussten oder hätten wissen müssen, das muss jetzt so akribisch aufgeklärt werden wie die Tat selbst. Wie konnte ein Mann, der dem Staatsschutz so früh als so gefährlich bekannt war, einen solchen Anschlag begehen? Wenige Tage vor der Tat, am 14. Dezember, erstellen Sicherheitsbehörden die neueste Version eines Personenprofils, in dem sie sämtliche Erkenntnisse über Amri sammeln. Ein solches Profil gibt keine Zukunftsprognosen ab, aber es beschreibt einen Mann, dessen Lebenslauf viel Ähnlichkeit mit dem von früheren Attentätern in Diensten der Terrorgruppe Islamischer Staat aufweist.
Es findet sich darin zum Beispiel die Karriere eines Kleinkriminellen, der bereits als Jugendlicher in Italien in Haft saß, und der in einer deutschen Asylunterkunft einen Diebstahl begangen haben soll. Es finden sich darin Sprachkenntnisse: Deutsch, Arabisch, Italienisch, Spanisch und Französisch. Es finden sich in der Akte Kontakte Amris zu einer islamistischen Zelle um den Prediger Abu Walaa, deren Anführer im November dieses Jahres verhaftet wurden. Es finden sich darin die acht Identitäten, die Amri nutzte. Es finden sich ständig wechselnde Wohnsitze und Aufenthaltsorte. Es finden sich darin etliche Fotos von ihm.
All diese Eigenschaften mag Amri noch mit vielen anderen Gefährdern teilen, die ins Visier deutscher Staatsschützer geraten sind. Aber in seinem Fall sind die Hinweise noch konkreter: Das Landeskriminalamt in Düsseldorf hielt Amri für einen Salafisten und radikalen Fundamentalisten. Das Polizeipräsidium Dortmund stufte ihn als Sympathisanten des "Islamischen Staates" ein. Die Behörden wissen sogar, dass Amri im Internet nach Anleitungen für den Bau von Rohrbomben gesucht hat, dass er sich für die chemischen Prozesse interessiert, mit denen man Sprengstoff herstellen kann. Sie wissen von mindestens einem Chat im Februar dieses Jahres. Darin soll sich Amri mutmaßlich als Selbstmordattentäter angeboten haben, höchstwahrscheinlich im Gespräch mit einem IS-Mitglied.
Dieser Amri beschäftigt nicht nur die örtlichen Sicherheitsbehörden in Berlin und Nordrhein-Westfalen; er schafft es auch immer wieder auf die Tagesordnung des Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrums (GTAZ) von Bund und Ländern in Berlin. Die Experten hier müssen immer aufs Neue entscheiden, ob auffällige "Gefährder" nur Maulhelden sind, die sich ein bisschen wichtig machen, Mitläufer eben, oder ob sie wirklich zur Tat bereit und entschlossen sind.
Die Behörden haben hierfür eine achtstufige Skala entwickelt, ein Prognosemodell. Ziffer eins steht dafür, dass "mit einem gefährdenden Ereignis zu rechnen ist". Die Acht bedeutet, ein solches Ereignis sei auszuschließen. Anis Amris Verhalten wurde zwei Mal mit einer fünf bewertet. Das bedeutet: Eine Gewalttat ist eher unwahrscheinlich. Zuletzt diskutierten die Experten im GTAZ über Amri am 2. November; warum und mit welchem Ergebnis, ist bisher unbekannt. War er da schon zur Tat entschlossen?
In den Sicherheitsbehörden hat längst die Debatte darüber begonnen, was schiefgelaufen ist; es gibt im Wesentlichen zwei Interpretationen. Nach einer Lesart war der Anschlag in Berlin nicht zu verhindern. Es gebe eben zu viele radikale Islamisten in Deutschland, inzwischen auch unter den Flüchtlingen. Es sei unmöglich, sie alle im Blick zu behalten. Zudem sei Amri ein so genannter "Schlafplatz-Hopper" gewesen. Er sei oft zwischen Nordrhein-Westfalen und Berlin gependelt. Überall in der Salafisten-Szene hatte er Freunde gefunden.
Er zeige eine "Konspirativität", die selbst unter Islamisten ungewöhnlich sei
Nach der zweiten Lesart hingegen liegt im Fall Amri eine klare Panne vor. Ein Gefährder, der seit zehn Monaten von Anschlägen sprach, hätte nicht untertauchen dürfen. Zwar haben die Strafverfahren gegen ihn nicht genug Erkenntnisse gebracht, um ihn zu verhaften. Aber genau aus diesem Grund gibt es die Kategorie des "Gefährders": Sie gilt für Verdächtige, denen sich nichts nachweisen lässt, denen man aber eine künftige Tat zutraut und die deswegen engmaschig kontrolliert werden müssen.
Ausgerechnet Amri aber gelang es abzutauchen. In den Wochen vor der Tat wussten die Sicherheitsbehörden nicht, wo er sich aufhielt, wie und mit wem er kommunizierte. Dies wäre besonders von Interesse gewesen, nachdem seine Glaubensbrüder um den Prediger Abu Walaa Anfang November verhaftet worden waren.
In dem Profil vom 14. Dezember steht über Amri, er zeige "Polizeierfahrung" und eine "Konspirativität", die selbst unter Islamisten ungewöhnlich sei. Auch das hatten die Behörden erkannt. Stoppen konnten sie ihn nicht.