Zehn Sekunden dauert die Videosequenz lediglich, die den heute 20 Jahre alten Hasan K. als Ordner im Niedersachsen-Stadion in Hannover zeigt. "Betet für Raqqa", sagt er und wird damit zu einem Verdächtigen für den angeblichen Angriffsplan auf das im November 2015 abgesagte Fußball-Länderspiel Deutschland gegen die Niederlande. Eine Hausdurchsuchung bei ihm folgt, Hasan K. wird seitdem überwacht, kommt jedoch nicht in Haft. Dabei bebildert das Video von Hasan K. recht genau den legendären Satz von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der damals in Hannover sagte: "Teile meiner Antwort würden die Bevölkerung beunruhigen." Hasan K. ist ein Teil dessen, was die Bevölkerung beunruhigen würde. Doch die Verantwortlichen in Hannover sehen bei ihm keine Fluchtgefahr.
Mitte September 2016, rund einen Monat bevor dem Islamisten vor dem Oberlandesgericht in Celle der Prozess gemacht werden soll, steigt er in ein Auto. Den Fahrer hat er über die Mitfahrzentrale gefunden, der Wagen gehört ausgerechnet einem Polizisten. Hasan K. will offenbar nach Syrien ausreisen, kommt aber nur bis Griechenland. Dort wird er auf Bitten der deutschen Behörden festgenommen und ausgeliefert. Er kommt rechtzeitig einen Tag vor dem Prozess in Deutschland an.
Dass man Hasan K. hat entwischen lassen, ist nur eine von mehreren Pannen in dem Ermittlungsverfahren gegen den 20-Jährigen und seine Bekannte, die 16-jährige Schülerin Safia S., die am Donnerstag gemeinsam vor Gericht stehen. K. ist als Mitwisser angeklagt. Das Mädchen, das am 26. Februar einen Bundespolizisten am Hauptbahnhof Hannover in den Hals stach, hatte ihren Freund K. in ihre Pläne eingeweiht. Safia S. ist wegen versuchten Mordes, Körperverletzung sowie der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland angeklagt. Sie handelte laut Anklage wohl direkt im Auftrag des sogenannten Islamischen Staates.
Bundesweit mussten Oberlandesgerichte neue Staatsschutzsenate schaffen
Strafverfahren gegen deutsche Anhänger des Islamischen Staats sind mittlerweile so zahlreich, dass man sich in Karlsruhe schon einmal Sorgen über ein mögliches Burn-out des Haftrichters beim Bundesgerichtshof machte. Bundesweit mussten Oberlandesgerichte neue Staatsschutzsenate schaffen, und Prozesseröffnungen gegen Rückkehrer aus Syrien kommen kaum noch in die Nachrichten. Doch der Prozess gegen Safia S. und Hasan K. ragt aus den vielen Verfahren heraus.
Die Hauptangeklagte war zum Tatzeitpunkt erst 15 Jahre alt. Und aus Sicht des Generalbundesanwalts hat sie den ersten, direkt vom IS in Auftrag gegebenen Angriff in Deutschland verübt. Weitere Taten, die vermutlich vom IS angeleitet wurden, folgten: Das im Juli begangene Selbstmordattentat in Ansbach und die Attacke mit einer Axt in einem Zug von Ochsenfurt nach Würzburg, zuletzt der in der vergangenen Woche in Sachsen verhinderte Sprengstoffanschlag durch den Syrer Dschaber al-Bakr, der nach den bisherigen Ermittlungen bereits den Berliner Flughafen Tegel ausgespäht hatte.
Die Auftraggeber von Safia S. saßen in Syrien: Ursprünglich hatte sie einen Angriff auf "Anti-Koran-Islam-Leute" geplant, sich dann aber für einen Polizisten entschieden, weil diese immer in der Stadt seien. Die Jugendliche erörterte noch am Abend vor der Tat Details der Planung. Sie bat das IS-Mitglied mit dem Chatnamen "Leyla" um Erlaubnis, "das" am Tag darauf "zu machen". Sie wolle zu einem Polizisten gehen, ihn am Hals angreifen und ihm die Waffe klauen. Wörtlich heißt es in dem Chat, sie wolle "an seinem Hals spielen". Chatpartner "Leyla" soll daraufhin Safia S. geraten haben, den Mann abzudrängen, ihm die Dienstwaffe zu entwinden und dann auf weitere Menschen zu schießen. Safia S. übersandte "Leyla" offenbar ein Bekennervideo, genau wie es die Attentäter im Juli getan hatten. Es ist bis heute nicht aufgetaucht.