Terror:Die Türkei stürzt ins Chaos

Das Land, auf das Europa in der Flüchtlingskrise setzt, wird von einer beispiellosen Terrorwelle erschüttert. Präsident Erdoğan kennt Freunde, Feinde, und sonst nichts.

Von Luisa Seeling

Zur Bilanz dieses Wochenendes gehört nicht nur das Massaker von Istanbul. In der Stadt Nusaybin im Südosten des Landes sterben bei Angriffen der verbotenen "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) nach türkischen Medienangaben zwei Soldaten, bei einem anderen Einsatz starb ein weiterer Soldat. Der Generalstab teilt mit, bei Anti-Terror-Missionen seien mindestens 28 militante PKK-Mitglieder getötet worden. In Izmir nimmt die Polizei 19 Menschen fest, darunter zwei Bezirksbürgermeister der prokurdischen Oppositionspartei HDP. Der Grund, laut staatlicher Nachrichtenagentur DHA: eine geplante Demonstration zum kurdischen Neujahrsfest Newroz. Vor dem Newroz-Fest liegen die Nerven blank. Die Türkei, auf die Europa in der Flüchtlingskrise setzt, wird vom Terror erschüttert. Für die Umsetzung des Flüchtlingsdeals braucht Brüssel einen stabilen Partner; stattdessen müssen die Europäer mit einem zerrissenen Land zusammenarbeiten, mit einer Regierung, die ganze Teile der Gesellschaft zum Feind erklärt, mit einem Staatsapparat, der Grundrechte mit Füßen tritt - und zugleich unfähig zu sein scheint, die Bürger zu schützen. Wohin man schaut, überall verschärfen sich die Konflikte. Da ist das Terrorproblem - und die Tatsache, dass die Bedrohung aus zwei Richtungen kommt. Kurdische Extremisten haben nicht mehr nur den Staat im Visier, sondern drohen mit Schlägen in Metropolen und touristischen Zentren. Zugleich ist mit dem Bürgerkrieg in Syrien die islamistische Bedrohung gewachsen - vor allem durch den IS.

Am Rand der Belastbarkeit

Terror von zwei Seiten, das wäre für jeden Sicherheitsapparat eine Herausforderung. Die Türkei bringt es an den Rand der Belastbarkeit. Das zeigt sich auch daran, dass die Behörden vor Anschlägen immer wieder versagt haben. Sie haben Hinweise nicht ernst genommen - oder absichtlich ignoriert, so der schlimme Verdacht, den nicht wenige in der Türkei hegen.

Doch es sind ja nicht nur die Bombenattentate, die das Land destabilisieren. Im Südosten eskaliert seit Monaten der Krieg. Die Gefechte zwischen Armee und PKK sind wieder aufgeflammt. Anders als früher wird der Kampf, der mit Unterbrechungen schon seit mehr als drei Jahrzehnten tobt und mindestens 40 000 Menschen das Leben gekostet hat, nicht mehr in den Bergen und Dörfern ausgetragen, sondern in den Städten. Hunderte Zivilisten sollen seit Beginn der Großoperation im Dezember ums Leben gekommen sein, auch viele Kinder. Schätzungen gehen davon aus, dass mehrere Hunderttausend Menschen zu Binnenflüchtlingen wurden.

In der öffentlichen Debatte dominiert zunehmend eine Art Kriegsrhetorik

Trotz seines massiven Vorgehens bekommt der Staat die Gewalt nicht in den Griff. Ebenso wenig ist eine politische Lösung in Sicht; weil beide Seiten weiter aufrüsten, aber auch, weil die parlamentarische Vertretung der Kurden, die HDP, immer mehr unter Druck gerät. Der Partei, im vergangenen Frühjahr noch ein Hoffnungsträger des Friedens, fällt es schwer, sich abzugrenzen von der militanten PKK. Zugleich verweigert die Regierung das Gespräch mit gemäßigten Kurden. Vor kurzem hatten Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und Vertreter der Regierungspartei AKP gefordert, fünf Abgeordneten der HDP die Immunität zu entziehen, darunter auch die Parteichefs Selahettin Demirtaş und Figen Yüksekdağ. Inzwischen ist im Parlament ein komplizierter Streit um die Aufhebung der Immunität fast aller Abgeordneten entbrannt. Die fünf HDP- Politiker würden - falls es dazu käme - wohl vor Gericht gestellt werden, einer der Vorwürfe: Terrorpropaganda.

In der öffentlichen Debatte dominiert zunehmend eine Art Kriegsrhetorik, die vom Staatspräsidenten immer weiter getrieben wird. Vor einigen Tagen sagte Erdoğan: "Wer im Kampf gegen den Terror an unserer Seite ist, ist unser Freund, wer nicht, ist unser Feind." Alles andere - Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit - zähle da nicht mehr. Es gebe keinen Unterschied zwischen einem Terroristen mit einer Bombe in der Hand und jenen, die den Terror mit einem Stift unterstützten. Die Absicht: Erdoğan will die juristische Definition von Terror noch weiter fassen. Künftig könnte dann jeder, der die Anti-Terror-Maßnahmen der Regierung kritisiert, als Terror-Unterstützer angeklagt werden, warnt der Hürriyet-Kolumnist Mustafa Akyol.

Beispielloser Druck

Schon jetzt ist der Druck auf Medienhäuser, Akademiker und Juristen beispiellos. Gegen drei Wissenschaftler, die eine Petition zum Frieden in den Kurdengebieten unterzeichnet hatten, wurde Haftbefehl erlassen. Ein britischer Dozent, der den Kollegen im Gerichtssaal beistehen wollte, wurde festgenommen und des Landes verwiesen; in seinem Rucksack hatten Wachleute Einladungen zum kurdischen Neujahrsfest gefunden. Als Can Dündar, Chefredakteur der regierungskritischen Tageszeitung Cumhuriyet, und sein Ankara-Korrespondent auf Anweisung des Verfassungsgerichts nach drei Monaten Haft entlassen werden sollten, erklärte Erdoğan, dass er die Entscheidung nicht respektieren werde. Zweimal haben die Behörden ganze Medienhäuser kaltgestellt, indem sie unter staatliche Kuratel gestellt wurden. Der Vorwurf: "Terrorpropaganda".

Wenn der Staat nicht "mit seiner unter Samthandschuhen versteckten Eisenfaust" auf die Köpfe der Terroristen einschlage, werde die Gewalt nicht aufhören, sagt Erdoğan. Bisher hat die Eisenfaust nicht verhindert, dass das Land weiter ins Chaos abgleitet.

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