Süddeutsche Zeitung

Terror:Die kleinen Todbringer des IS

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Kinder als Selbstmordattentäter: Diese infame Taktik wendet die Terrororganisation immer öfter an.

Von Moritz Baumstieger, München

Samstagabend am vergangenen Wochenende in Kirkuk, Irak: Ein Junge steht mit nackten Oberkörper auf der Straße, Polizisten halten ihn an den Armen. Zwei weitere Sicherheitskräfte nesteln ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen an einem breiten Gurt aus weißem Stoff: Der Junge, der mit einem Messi-Fußballtrikot durch die Stadt lief, trägt eine Bombe am Körper. Als die Männer den Sprengstoffgurt am Boden ablegen, brandet Applaus auf. Kirkuk ist einem Selbstmordanschlag entkommen, der Junge, der sich vor einer schiitischen Moschee in die Luft sprengen sollte, ist erst zwölf oder 13 Jahre alt. Ein Team des Senders Kurdistan 24 TV filmte die dramatischen Minuten.

Samstagabend, Gaziantep, Türkei: Auch hier soll es Augenzeugen zufolge ein Kind gewesen sein, das in die tanzende Menschenmenge einer Hochzeitsgesellschaft lief und es schaffte, seinen Sprengstoffgürtel zur Detonation zu bringen. Mehr als 50 Menschen starben. Präsident Recep Tayyip Erdoğan meldete gleich nach dem Anschlag, ein Junge zwischen 12 und 14 Jahren sei der Täter gewesen. Am Montag nahmen türkische Regierungsvertreter jedoch die Aussage mangels eindeutiger Hinweise zunächst zurück. Nach ersten Erkenntnissen war es die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die beide Täter auf ihre tödlichen Missionen geschickt hat. "Die Mobilisierung von Kindern und Jugendlichen für militärische Zwecke durch den Islamischen Staat hat sich rasant beschleunigt", schreibt das "Combating Terrorism Center" der US-Militärakademie West Point in einer Studie. Den US-Experten zufolge sprengten sich 2015 knapp 90 Kinder und Jugendliche im Namen des IS als Selbstmordattentäter in die Luft, wobei sich die Fallzahlen pro Monat von Januar 2015 bis Januar 2016 fast verdreifachten. Der Einsatz von Kindern und Jugendlichen als Selbstmordattentäter ist an Perfidie kaum zu überbieten, für Terroristen aber sehr interessant: Kinder können sich auch in sensiblen Zonen relativ unauffällig bewegen, einfach, weil ein Kind von kaum einem Menschen als potenzielle Bedrohung wahrgenommen wird. Zudem lassen sich Kinder leichter indoktrinieren oder psychologisch manipulieren. Befragungen von verhinderten jungen Attentätern zeigten in der Vergangenheit, dass Kinder mit den einfachsten Drohkulissen zu ihren Taten gezwungen wurden.

Zum anderen sehen die Experten der US-Militärakademie den Einsatz von Kindern durch den IS als "effektive Form der psychologischen Kriegsführung": Durch die Überschreitung des Tabus, Tötungsaktionen durch eigentlich unschuldige Kinder durchführen zu lassen, demonstrieren die Terroristen ihre Entschlossenheit, "Angst in die Herzen der gegnerischen Soldaten zu pflanzen". In der für die eigenen Reihen bestimmten Propaganda mache der IS aber keinen besonderen Unterschied zwischen minder- und volljährigen "Märtyrern" und gebe nur in Ausnahmefällen das Alter der jungen Selbstmordattentäter an.

Boko Haram für Anschläge Minderjähriger in Westafrika verantwortlich

Der IS ist nicht die erste Gruppe, die Minderjährige für Terrorakte rekrutiert. Die ersten Anschläge durch Kinder werden Palästinenserorganisationen nach dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Jahr 2000 zugerechnet. Nach dem Tod des Hamasführers Ahmad Yassin 2004 nahm die Praxis zu, Yassin hatte die Entsendung von Kindern nicht gutgeheißen. Zumindest ein Teil der gegen Israel eingesetzten Kinder wusste nicht, was für explosive Fracht ihnen mitgegeben und per Fernsteuerung gezündet wurde. Nach der US-Invasion in Afghanistan schickten später vor allem die Taliban Minderjährige los, um möglichst viele ausländische Soldaten mit in den Tod zu reißen. Ähnlich gingen sunnitische Aufständische und Terroristen dann nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak vor.

Neben der IS-Mutterorganisation im Nahen Osten zeichnet heute vor allem Boko Haram in Westafrika für Anschläge Minderjähriger verantwortlich, die Gruppe betrachtet sich als Teil des Kalifats. 2015 soll es nach Angaben von Unicef 44 Taten Minderjähriger in Nigeria, Kamerun, Niger und Tschad gegeben haben, drei Viertel der Anschläge verübten Mädchen. In mindestens einem Fall in Kamerun schickten die Dschihadisten eine der 200 Schülerinnen los, die sie 2014 in Nordnigeria entführt hatten. Glücklicherweise ohne Erfolg: Die 15-Jährige offenbarte sich einer Polizeistreife, die an ihren Körper geschnallte Bombe konnte entschärft werden.

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SZ vom 23.08.2016
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