Territorialträume der Türkei:Erdoğan und die Grenzen seines Herzens

Recep Tayyip Erdogan

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht im Präsidentenpalast.

(Foto: dpa)

Der Norden Syriens, griechische Inseln, das irakische Mossul: Präsident Erdoğan verweist auf die Geschichte - und holt alte Gebietsansprüche hervor.

Von Christiane Schlötzer

Am Genfer See ist das Klima auch im November gewöhnlich angenehm. Das wussten die türkischen Diplomaten zu schätzen, die im Jahr 1922 im Orientexpress von Istanbul nach Lausanne aufbrachen. Den Ort der Friedenskonferenz, die das Schicksal der modernen Türkei bestimmen sollte, hatten die Briten wegen der exzellenten Schweizer Hotellerie ausgewählt. Schließlich würde man eine Weile miteinander verbringen müssen.

Für die Türken, Männer aus dem engsten Umfeld von Mustafa Kemal Atatürk, hatte der Name der "behaglichen Universitätsstadt" einen vertrauten Klang, sie hatten hier oder im nahen Genf studiert, schreibt der Turkologe Klaus Kreiser in seiner Atatürk-Biografie. Kreiser überliefert auch die "Instruktionen" für die türkische Delegation: "Über einen Armenierstaat beziehungsweise eine Abtrennung türkischen Bodens an das bestehende Sowjetarmenien durfte nicht verhandelt werden."

Atatürk war der stolze Sieger des türkischen Befreiungskrieges, seine Soldaten hatten die griechischen Invasionstruppen aus Kleinasien vertrieben. In Griechenland ist die Niederlage bis heute als "Kleinasiatische Katastrophe" in Erinnerung. Das einst blühende, griechisch geprägte Smyrna (das heutige Izmir) ging in Flammen auf; 1,5 Millionen Griechen mussten ihre alten Siedlungsgebiete in Anatolien und an der Ägäisküste verlassen, 500 000 Muslime das heutige Griechenland.

Die Gespräche in Lausanne zogen sich hin, mal drohten die Griechen mit Abbruch, mal zeigten sich die Türken unnachgiebig, erst im Juli 1923 wurde der Friedensvertrag unterzeichnet.

Sèvres war die Schande - Lausanne Sicherheit

Heraus kam nicht weniger als das Gründungsdokument der heutigen Republik Türkei, ein Vertrag, der ihre Grenzen festlegte und das Osmanische Reich für immer beerdigte. Auch der Vertrag von Sèvres aus dem Jahr 1920 war nun Makulatur. Darin hatten die Sieger des Ersten Weltkriegs, vor allem Briten und Franzosen, die Trümmer des Reichs unter sich aufgeteilt. Für die Türken war nur ein anatolischer Rumpfstaat vorgesehen.

Sèvres war die Schande - Lausanne Sicherheit. In der Türkei tragen bis heute Straßen, Plätze und Denkmäler die Erinnerung an Lozan, wie es im Türkischen heißt, wo man Fremdwörter meist so schreibt, wie man sie spricht.

An jedem 24. Juli wird der Unterzeichnung des Vertrags besonders gedacht. Auf der Webseite des Präsidialamts kann man noch nachlesen, was Recep Tayyip Erdoğan in diesem Jahr Lobendes zu sagen hatte, über den Sieg der "Heiligen Nation" auf den Schlachtfeldern - und an der Front der Diplomatie.

Nun klingt dies plötzlich ganz anders, Erdoğan tut, was vor ihm noch kein türkischer Staatschef wagte: Er kritisiert öffentlich den Vertrag von Lausanne. Den Auftakt dazu lieferte kein historisches Seminar, sondern eine Versammlung von Dorfvorstehern in Ankara, wo jedes Wort sofort Flügel bekommt.

Erdoğan schimpfte dort Ende September drauflos: Man habe versucht, die Türken "zu betrügen" und das Abkommen "als einen Sieg präsentiert". In Lausanne hätten die Türken Inseln "weggegeben", so nah der Küste, "dass wir eure Stimmen hören können, wenn ihr herüberruft". Und weiter: "Das waren unsere Inseln. Dort sind unsere Moscheen." So wurde Erdoğan in türkischen Medien zitiert.

Wie das? Was war passiert? In Griechenland verstand man sofort, Erdoğan könne mit den "Insel in Rufweite" nur die küstennahen Ägäisinseln des Dodekanes gemeint haben, darunter Rhodos, Kos, Karpathos und Kalymnos. Die Griechen zeigten sich alarmiert, Premier Alexis Tsipras nannte Erdoğans Äußerungen "gefährlich" für das griechisch-türkische Verhältnis - und die gesamte Region.

Inzwischen hat Erdoğan seine Zweifel am Lausanne-Vertrag mehrfach wiederholt, der, so der türkische Präsident, "sei in keiner Weise ein heiliger Text" (hier mehr dazu).

Abschied vom Kemalismus in Vorbereitung

Spannungen gab es schon vorher zwischen Athen und Ankara. Nach dem Putschversuch in der Türkei am 15. Juli flohen mehrere türkische Offiziere nach Griechenland und baten um Asyl. Erdoğan verlangt ihre Auslieferung. Die Offiziere aber befürchten Folter und Verfolgung in ihrer Heimat.

Noch sind griechische Gerichte mit den Asylverfahren befasst, für die Athener Regierung aber ist das ein heikler außenpolitischer Konflikt. Und inzwischen kommen immer mehr Türken über die Ägäis, geschasste Beamte, Unternehmer, Diplomaten auf der Flucht vor Erdoğan. Sie landen oft auf einer der "Inseln in Rufweite".

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Diplomaten im Athener Außenministerium raten zur Deeskalation und lenken den Blick in andere Richtungen, zumal niemand jetzt ernsthaft mit einer türkischen Invasion auf Rhodos rechnet. Aber in Lausanne wurden ja vor fast einem Jahrhundert nicht nur die türkisch-griechischen Grenzen festgelegt, sondern auch die der Türkei mit Syrien und danach auch die mit dem Irak. "Damit wurde das von Kurden bewohnte Territorium auf drei Länder aufgeteilt", erinnerte die griechische Zeitung Kathimerini.

Und das Blatt warnt: Die Türkei könne eigentlich gar kein Interesse daran haben, den Grenzvertrag gerade jetzt infrage zu stellen, da der Kurden-Konflikt neu entflammt ist und Syrien der Zerfall droht.

In der Türkei wagen nur noch wenige Oppositionsmedien offene Kritik an Erdoğan. In der englischsprachigen Hürriyet Daily News, die auch von ausländischen Diplomaten gelesen wird, tastet sich ein Kommentator voran, er schreibt: Geschichte sei offenbar "zu komplex" für den durchschnittlichen Unterstützer der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP. Dass der Dodekanes schon 1913, weit vor der Republikgründung, an Italien fiel, nach einem verlorenen Krieg gegen das Königreich Italien, habe man wohl vergessen.

Die Inselgruppe wurden sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein Teil Griechenlands, auch das bleibt in der Türkei gewöhnlich unerwähnt. Für den Hürriyet-Autor Semih Idiz ist aber ziemlich klar, was Erdoğan und seine Anhänger mit ihrem historischen Revisionismus bezwecken: "Alles, was für sie zählt, ist, dass Inönü ihr Hassobjekt ist, wegen seines ausgeprägten Säkularismus."

Direkte Attacken auf Atatürk wagt der Präsident nicht - noch nicht

Ismet Inönü war einer der engsten Weggefährten Atatürks - und der türkische Verhandlungsführer in Lausanne. Nach dem Tod Atatürks 1938 wurde er dessen Nachfolger als Staatschef. Mit anderen Worten: Erdoğan bereitet den Abschied vom Kemalismus vor, der Gründungsideologie der Türkei.

Den Republikgründer offen anzugreifen, den Gazi, wie die Türken sagen, den siegreichen Feldherrn des "Befreiungskrieges", dessen Foto jedes Amtszimmer schmückt, das wagt der Präsident wohl - noch - nicht. "Aber es braucht nicht viel Imagination, um herauszufinden, wer das eigentliche Ziel ist, wenn Lausanne angegriffen wird", erklärt Idiz.

Während Kommentatoren dies- und jenseits der Ägäis noch grübeln, was Erdoğan mit seiner Attacke auf einen Grundstein der Türkischen Republik alles bezweckt haben könnte, holen andere schon mal alte Karten hervor und stellen sie ins Internet. In diesen Karten ist das Gebiet der Türkei großflächig erweitert, im Westen um das griechische Thrazien und um Makedonien, von Kavala bis Thessaloniki, auch das bulgarische Varna ist eingemeindet.

Im Osten reicht das türkische Territorium über Mossul hinaus bis Kirkuk, tief in den Irak hinein. Das Osmanische Parlament in Istanbul zeichnete 1920 solche Karten und bekräftigte den gewünschten Grenzverlauf in dem Manifest Misak-ı Milli (Nationalpakt). Es blieben Wunschträume.

Aber Erdoğan erinnerte jüngst ausgerechnet auch an jenes Manifest, als es darum ging, ob der Türkei erlaubt sein sollte, in die Kämpfe zur Rückeroberung der irakischen Großstadt Mossul vom "Islamischen Staat" einzugreifen, was die irakische Regierung strikt ablehnt.

Das alles ist schon eine ziemlich tiefe Verbeugung des Präsidenten vor jenen türkischen Nationalisten, die bis heute glauben, die Türkei sei 1923 von den Briten um Mossul betrogen worden. In Lausanne konnte der Streit um die türkischen Ansprüche auf die ölreiche ehemalige osmanische Provinz Mossul nicht gelöst werden.

Ismet Inönü legte Bevölkerungsstatistiken für Mossul, Kirkuk und Sulaimaniyya vor, danach lebten in dem gesamten Gebiet gut drei Mal so viele Türken wie Araber. Die Briten hielten mit eigenen Tabellen dagegen, in denen die Türken nur noch ein Zwölftel der Bevölkerung stellten. Dass die überwiegende Mehrheit der Menschen dort Kurden waren, konnte keine Seite leugnen.

Der Putschversuch in einem Atemzug mit den Kreuzzügen

Weil man sich nicht einigte, wurde eine Kommission gegründet, die aber auch keine Lösung fand. Kurzzeitig erwog Atatürk gar, Mossul zu besetzen und die Briten zu vertreiben, unterließ dies dann aber doch lieber.

Der Völkerbund, als Vorläufer der Vereinten Nationen, traf schließlich eine Entscheidung. Er schlug das Gebiet dem Irak zu. Die Türkei akzeptierte dies erst nach längerem Zögern, im Jahr 1926. Der Vertrag versprach der Türkei noch zehn Prozent der Erdöleinnahmen aus Mossul für die nächsten 25 Jahre. Darauf verzichtete Ankara aber später im Gegenzug für eine größere Goldmenge.

Mustafa Kemal Atatürk, 1933

Mustafa Kemal Atatürk im Jahre 1933. Während einer Reise durch die Türkei spricht der Staatspräsident mit einem der Dorfältesten.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Baskın Oran, Experte für Internationale Beziehungen an der Universität Ankara, ist überzeugt, dass Erdoğans Lausanne-Kritik denn auch "weniger mit den griechischen Inseln zu tun hat als mit dem Kurden-Konflikt und mit dem ölreichen Mossul". Oran betont, die Türkei habe in Lausanne die Dodekanes-Inseln gar nicht beansprucht, weil deren Bevölkerung "zu 90 Prozent griechisch war".

Für Orans Analyse spricht viel: Erdoğan hat es inzwischen mit viel Pathos geschafft, Mossul zum innenpolitischen Thema in der Türkei zu machen: "Wir waren in der Geschichte Mossuls präsent", sagte Erdoğan, "natürlich" respektiere man die heutigen Grenzen, "aber wir können keine Grenzen für unsere Herzen setzen". Die Türkei stehe zu ihren "Landsleuten" im griechischen Thrazien, auf Zypern, der Krim und anderswo.

Viele Herrscher, viele Kriege: Mossul

Die Geschichte Mossuls, der nach Bagdad zweitgrößten Stadt des Irak, geht weit in die Antike zurück. Zur Zeit des neuen Reiches der Assyrer (883 bis 612 v. Chr.) entwickelte sich das Dorf Mossul dank seiner günstigen Lage am Strom Tigris zur Stadt. Diese gehörte nacheinander zu den Reichen Alexanders des Großen, der Seleukiden sowie der großen Gegner Roms, der Parther und Sassaniden. Durch den Arabersturm des 7. Jahrhunderts wurde die Stadt muslimisch.

Als 1098 die christlichen Kreuzritter einfielen, machten deren anfangs stärkste Widersacher auf muslimischer Seite, die Zengiden, Mossul zu einem ihrer Zentren. Mitte des 13. Jahrhunderts führten dann die Mongolen einen vernichtenden Feldzug gegen die islamischen Reiche des Nahen Ostens, sie zerstörten die Metropole Bagdad (1258) und wenige Jahre später auch Mossul, das seine dunkelste Stunde erlebte: "Neun Tage dauerte das Morden" schreibt Jeremiah Curtin in seiner Geschichte der Mongolen, "und keine einzige lebende Seele blieb in der Stadt übrig." Zwar gelang es dem ägyptischen Mameluckenführer Baibars, die muslimische Welt des Nahen Ostens in der Entscheidungsschlacht von Ain Jalut 1260 und langen Kriegen vor den Mongolen zu retten. Mossul erholte sich aber nur langsam von der Katastrophe.

Vom 16. Jahrhundert an bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 stand die Stadt meist unter osmanischer Herrschaft, aus dieser Zeit rühren heutige türkische Ansprüche. Doch erkannte die Türkei 1926 die Zugehörigkeit Mossuls zum britischen Mandatsgebiet Irak an.

Joachim Käppner

Sogar Atatürk bemühte der Präsident hier für seine Zwecke: "Unser Republikgründer wurde außerhalb unser Grenzen geboren." Atatürk stammte aus Thessaloniki, das bei dessen Geburt 1881 noch osmanisch war.

In der Nähe von Mossul, in der Kleinstadt Baschiqa, sind bereits seit einiger Zeit mehrere Hundert türkische Soldaten stationiert, offiziell zur Ausbildung kurdischer Peschmerga. Mit den nordirakischen Kurden pflegt Ankara überwiegend gute Beziehungen. Ganz anders verhält es sich mit den syrischen Kurden, weil die sich von der militanten, marxistischen türkisch-kurdischen PKK in ihrem Kampf gegen den IS helfen lassen. Die irakische Regierung verlangt, die türkische Militärpräsenz zu beenden - bislang vergeblich.

Unterdessen trommeln regierungsnahe türkische Medien unentwegt für eine türkische Rolle in der Mossul-Offensive, in der schon viele Akteure mitmischen: irakische Armee, kurdische Peschmerga, schiitische Milizen, die US-geführte Anti-IS-Koalition als Unterstützer aus der Luft.

Geplatzte Träume

Die türkische Regierungspresse rührt gern antiamerikanisches Sentiment, Osmanen-Nostalgie und Warnungen vor einem Sunniten-Schiiten-Konflikt zusammen. Auch Verschwörungstheorien haben in der neuen außenpolitischen Agenda Ankaras einen festen Platz - und ein Grundmotiv: Die Türkei werde von fremden Mächten an ihrem weiteren Aufstieg gehindert.

Damit wird erklärt, warum schon so viele türkische Träume geplatzt sind. Im Arabischen Frühling hatte Erdoğan die Hoffnung genährt, sein Land werde zur allseits geschätzten Regionalmacht aufsteigen. Daraus wurde nichts: In Ägypten wurden die verbündeten sunnitischen Muslimbrüder vom Militär wieder von der Macht entfernt, und in Syrien ist Erzfeind Baschar al-Assad immer noch im Amt.

In der Post-Putsch-Publizistik liest sich das historische Drama der Türkei so: Der gescheiterte Militärcoup im Juli sei "der größte Versuch einer westlichen Besatzung seit den Kreuzzügen" gewesen (so die Zeitung Yeni Şafak). Die Türkei aber müsse, egal was es koste, "stärkste Macht der Region" sein. Weil sich auch so begründen lässt, dass sie einen starken Präsidenten braucht.

Erdoğan setzt offenbar alles daran, der Republik ein Präsidialsystem aufzuzwingen, und wenn er dafür ihre Fundamente zertrümmern muss. Mit Lausanne hat er schon mal angefangen.

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