Terminkalender des US-Finanzministers analysiert:Europas große Nummer

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EZB-Chef Draghi ist für die USA die erste Adresse in der Euro-Krise. Das geht aus einer Analyse des Terminkalenders von US-Finanzminister Geithner hervor. Doch das ist nicht die einzige überraschende Erkenntnis aus der ungewöhnlichen Studie.

Cerstin Gammelin, Brüssel

Was haben die Euro-Krise und Henry Kissinger gemeinsam? Nun, die Krise hat irgendwie beiläufig die Frage des früheren amerikanischen Außenministers beantwortet, mit der er einst seine europäischen Kollegen provozierte: Welche Telefonnummer hat Europa eigentlich? Er könne erst dann an ein vereinigtes Europa glauben, wenn man ihm die Telefonnummer des europäischen Außenministers mitteilen könne, ließ sich Kissinger zitieren.

Inzwischen steht der ultimative Ansprechpartner amerikanischer Politiker auf dem alten Kontinent fest. Immer dann, wenn sich die Europäer daran machen, sich selbst zu retten, klingelt beim Präsidenten der Europäischen Zentralbank das Telefon. Zwischen Januar 2010 (als das Drama um Griechenland begann) und Juni 2012 (als Italien und Spanien kurz vor der Pleite standen) rief US-Finanzminister Timothy Geithner insgesamt 58-mal bei Mario Draghi oder seinem Vorgänger Jean-Claude Trichet an. Der Boss Europas ist der Präsident der gemeinsamen Notenbank, der einzig wirklichen europäischen Institution - so fasst die Brüsseler Denkfabrik Bruegel das Ergebnis ihrer akribischen Recherche des offiziellen Terminkalenders von Timothy Geithner zusammen.

Die Studie enthält weitere überraschende Ergebnisse ( hier grafisch dargestellt). So sprach der US-Finanzminister in den vergangenen Krisenjahren deutlich häufiger mit Europa als mit dem Internationalen Währungsfonds - einer Institution, mit der er natürlicherweise auch einiges andere als die Euro-Krise zu bereden hat: 168-mal telefonierte Geithner über den Atlantik, 114-mal rief er in der Washingtoner Nachbarschaft an.

Und noch eine Erkenntnis fördert die Recherche des Terminkalenders zutage. Andere europäische Institutionen, also die Europäische Kommission, der Europäische Rat oder auch die Gruppe der Finanzminister der Euro-Länder spielen in den Planungsstäben der amerikanischen Regierung so gut wie keine Rolle. Den offiziellen Mister Euro und Vorsitzenden der Euro-Gruppe, Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker, erreichten in dreißig Monaten nur zwei Anrufe - und beide waren eher Besuchsabläufen als politischen Absprachen geschuldet. Auch EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy oder EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn waren in Washington als Gesprächspartner kaum gefragt. Stattdessen rief Geithner - neben Draghi - regelmäßig bei Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und seinem französischen Ressortkollegen an, jeweils über dreißig Gespräche sind registriert.

Die schnöde Statistik verrät sogar, wann sich die Amerikaner besonders sorgten, die europäische Krise könne sie in ihren Sog ziehen. Dann nämlich häuften sich die Anrufe auffällig: Das erste Mal standen Anfang 2010 die Telefone nicht still - als die Euro-Länder ewig brauchten, um die ersten Hilfen für Griechenland zu verabschieden. Heiß her ging es auch im Sommer und Herbst 2011, als die Amerikaner darauf drängten, Europa solle einen Schutzwall aus möglichst einer Billion Euro um sich errichten. Den vorerst letzten Peak gab es im Juni 2012. Kurz bevor Europa-Boss Draghi ankündigte, er werde alles tun, um den Euro zu retten, glühten die Telefonleitungen über den Atlantik.

© SZ vom 06.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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