"Tempo":Eine deutsche Geschichte

80 Jahre 'Tempo'-Taschentuch - Werk Neuss

Produktion von 'Tempo'-Taschentüchern im Werk Neuss

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Der Papiertaschentuch-Hersteller hat eine bemerkenswerte Vergangenheit: Die Firma wurde in der NS-Zeit "arisiert" und brachte ihrem neuen Besitzer viel Geld ein - auch nach dem Krieg.

Von Uwe Ritzer

Die Nationalsozialisten fackeln nicht lange. Nicht einmal ein halbes Jahr nachdem Adolf Hitler in Berlin die Macht übernommen hatte, lädt die NSDAP in Nürnberg den jüdischen Unternehmer Oskar Rosenfelder vor. Er habe Kantinengeld unterschlagen, lautet der Vorwurf.

Deshalb müsse er 12 000 Reichsmark bezahlen. Rosenfelder zahlt die Hälfte und darf wieder gehen. Ein Warnschuss. Wenig später beginnt der fränkische NSDAP-Gauleiter, Julius Streicher, in seinem antisemitischen Hetzblatt Der Stürmer gegen Oskar Rosenfelder und seinen Bruder Emil zu wüten. Es war der Sommer 1933.

Bis dahin hatten die beiden zu den angesehensten Unternehmern Nürnbergs gezählt. Vier Jahre zuvor hatte Oskar Rosenfelder beim Reichspatentamt in Berlin eine Erfindung registrieren lassen, die Marke Tempo. Ein geradezu revolutionäres Alltagsprodukt. Ein Einwegtaschentuch aus Zellstoff. Bis dahin gab es nur Stofftücher. "Seidenweich! Saugfähig! Hygienisch! Kein Waschen mehr!", ließen die Rosenfelders auf die ersten Packungen drucken. Auf den Namen Tempo sollen sie gekommen sein, weil sie ihre Zeit als so schnelllebig empfanden.

Ihre Nürnberger Firma, die Vereinigten Papierwerke, stellte auch Toilettenpapier und Damenbinden der Marke Camelia her. Tempo erwies sich schnell als wirtschaftlicher Erfolg. Von dem hatten die beiden Brüder allerdings nicht mehr viel. Die Nazis zwangen sie, ihre Firma zu verkaufen. Sie wurde arisiert und ging für einen Bruchteil ihres tatsächlichen Wertes an einen der größten Opportunisten unter den deutschen Unternehmern in der NS-Zeit: Gustav Schickedanz.

Die jüdischen Besitzer mussten fliehen. Versandhaus-Gründer Schickedanz profitierte davon

Der Gründer des Versandhauses Quelle erkannte das Potenzial von Tempo und machte mit der Marke fortan riesige Geschäfte. Bereits 1935 wurden 150 Millionen Stück produziert. Nach einer kriegsbedingten Pause wurden die Zellstofftaschentücher bereits 1947 wieder produziert. 1949 lautete der Werbeslogan: "Die Hygiene eines Volkes, ein Gradmesser seiner Kultur." 1955 wurden erstmals eine Milliarde Tempo-Taschentücher hergestellt, 1962 waren es vier Milliarden.

Über die schiere Menge hinaus wurde Tempo zum Synonym für die Produktgattung der Papiertaschentücher. Ihre Herstellerfirma wuchs dementsprechend. Sie blieb bis 1994 Teil der Unternehmensgruppe der Familie Schickedanz. Dann wurde sie an den US-Konsumgüterhersteller Procter & Gamble verkauft. Sieben Jahre später übernahm der schwedische Holzverarbeiter SCA das Unternehmen samt Marke. Seit einer Abspaltung gehört Tempo zu Essity, einem in Stockholm angesiedelten und börsennotierten Hersteller von Hygieneartikeln.

Trotz des enormen Erfolgs ihrer Tempo-Erfindung sind die Brüder Rosenfelder in Vergessenheit geraten. Um ihre Firma gebracht, flohen sie vor den Nachstellungen des NS-Regimes ins Ausland und entgingen dort dem Holocaust. Gustav Schickedanz erhielt nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst Berufsverbot; eine Spruchkammer stufte ihn 1949 aber als Mitläufer ein, woraufhin er relativ schnell wieder als Unternehmer tätig sein durfte.

Die jüdischen Tempo-Gründer machten nach dem Krieg Ansprüche geltend. Bereits 1947 kritisierte Oskar Rosenfelder, Schickedanz verhalte sich ihnen gegenüber, als sei nicht der Dieb der Schuldige am Diebstahl, sondern der Bestohlene. 1951 zahlte der Versandhausunternehmer den Rosenfelder-Erben mehrere Millionen D-Mark Entschädigung.

In Nürnberg erinnert auf den ersten Blick nichts mehr an die Tempo-Ursprünge. In der Nordstadt allerdings gibt es noch ein Bürogebäude, in dem seit 1973 die Schickedanz'schen Papierwerke verwaltet wurden. Heute beherbergt der Zweckbau ein berufliches Bildungszentrum. Für die Nürnberger ist das Gebäude indes bis heute schlicht "das Tempo-Haus".

Zur SZ-Startseite
Boykott jüdischer Geschäfte in Berlin 1933 Juden Hitler SZ Photo

Juden in Nazi-Deutschland
:"Wir verlassen diese Hölle"

Ab 1933 wird die Lage für Juden in Deutschland stetig bedrohlicher. Wie es drei jungen Menschen im Nazi-Staat erging - und wie sie überlebten.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: