Telefonüberwachungen:Die Abhör-Republik

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Die Zahl der Telefonüberwachungen steigt stärker als jede Kriminalitätskurve. Das Fernmeldegeheimnis - ein Grundrecht - stirbt aus. Was stoppt die Überwachungsraserei?

Heribert Prantl

Die Zahl der Telefonüberwachungen steigt und steigt. Die Vertreter der Polizeigewerkschaften sagen, das sei nicht so schlimm. Das stimmt insofern, als es noch schlimmer sein könnte: Es gibt ja immer noch Telefone, die nicht vom Staat abgehört, es gibt immer noch Faxe, E-Mails und Handy-Kurzmitteilungen, die nicht mitgelesen werden. Aber: Die Zahl der Telefonüberwachungen steigt stärker als jede Kriminalitätskurve.

Können nicht mehr sicher sein, dass der Staat nicht lauscht: Telefonnutzer (Foto: Foto: AP)

Der einschlägige Paragraph 100a ist von bezeichnend unförmiger Gestalt: es handelt sich um eine der längsten Vorschriften der Strafprozessordnung. Er wurde zwar vor knapp zwei Jahren ein wenig reformiert, angeblich eingeschränkt.

Die neuen Zahlen sagen das Gegenteil. Seit der angeblichen Einschränkung gibt es noch mehr Telekommunikationsüberwachung als vorher: Im Jahr 2008 hat der Staat im Rahmen von 5008 Ermittlungsverfahren Telefone abgehört und Computer angezapft; das ist eine Steigerung bundesweit um elf, in Bayern um dreißig Prozent. Vor 36 Jahren (die Telefonüberwachung ist ein Kind der Notstandsgesetze) lag die Zahl nach bei 104 Verfahren.

Nun klingt selbst die heutige Zahl von 5000 Ermittlungsverfahren gar nicht so wild. Man muss aber wissen, dass im Rahmen eines einzigen Ermittlungsverfahrens Tausende Anschlüsse monatelang abgehört werden können, also Hunderttausende Telefonate und Computerkommunikationen.

Und in dieser Statistik noch gar nicht enthalten sind die Lauschereien, die die Polizei auf der Basis der Polizeigesetze zu Zwecken der Vorbeugung veranstaltet; hier greift die Polizei nicht in die Kommunikation von Verdächtigen, sondern schon von bloß Vorverdächtigen ein, auch in deren Kontakte mit Anwälten, Ärzten und Journalisten.

Computerkontroll-Orgien

Hinzu kommen dann noch die Eingriffe der Geheimdienste ins Fernmeldegeheimnis. Summa summarum: Dieses Fernmeldegeheimnis kann man als Totalverlust abschreiben; so sagt es der Ex-Verfassungsrichter Jürgen Kühling. Artenschutzabkommen gibt es bisher nur für Tiere und Pflanzen. Man braucht solche Abkommen auch für Grundrechte. Artikel 10 Grundgesetz gehört zuoberst auf die Rote Liste der gefährdeten Arten.

Was ist zu tun? Die Urteile des Verfassungsgerichts haben die Überwachungsraserei nicht stoppen können. Die Appelle an die Verhältnismäßigkeit der Mittel haben nicht gefruchtet. Die rechtsstaatliche Kontrolle der Kommunikationsüberwachung funktioniert nicht.

Sie funktioniert auch deswegen nicht, weil der Richter, der die Aktionen genehmigt, keinen Einfluss mehr darauf hat, was aus diesen Aktionen wird. Damit ist er nicht mehr befasst. Der Ermittlungsrichter ist in Deutschland eine Art Unterschriftenautomat. Er verteilt Eintrittskarten für Vorstellungen, die er nicht kennt. Das ist ein Systemfehler.

Wer die Abhör- und Computerkontroll-Orgien stoppen will, muss die Stellung des Richters stärken, der die Überwachung anordnet. Dieser Richter muss dafür verantwortlich sein und verantwortlich gemacht werden können.

© SZ vom 24. September 2009/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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