Tel Aviv:Wo der IS nur 40 Kilometer entfernt ist

Tel Aviv: Zwei Menschen erschoss ein unbekannter Täter am Neujahrstag in Tel Aviv. Israelische Sicherheitskräfte sind alarmiert: Die Attacke ähnelt den Techniken des IS.

Zwei Menschen erschoss ein unbekannter Täter am Neujahrstag in Tel Aviv. Israelische Sicherheitskräfte sind alarmiert: Die Attacke ähnelt den Techniken des IS.

(Foto: Oded Balilty/AP)
  • Nach dem Anschlag auf eine Bar in Tel Aviv am Neujahrstag wächst in Israel die Angst vor einem Angriff durch den Islamischen Staat (IS).
  • Der Inlandsgeheimdienst Schin Bet warnt vor einer Unterwanderung israelischer Araber durch die Dschihadisten.
  • Der Schütze ist immer noch auf der Flucht. Am Dienstag nahm die Polizei Angehörige des mutmaßlichen Attentäters fest - darunter auch den Vater.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Einen Koran hatte er im Rucksack, das heilige Buch der Panik. Am Tatort in Tel Aviv, wo ein israelischer Araber am Neujahrstag zwei Menschen erschoss und sieben weitere verletzte, hat der flüchtige Attentäter diese Spur hinterlassen - und seitdem fragt sich Israel mit Bangen, ob dieser Anschlag inspiriert gewesen ist vom sogenannten Islamischen Staat (IS). Hat nicht der Täter nach Pariser Muster auf ein Café gefeuert? Hat er nicht anders als all die anderen Angreifer, die Israel gerade mit einer Terrorwelle überziehen, danach gekonnt die Flucht ergriffen? Die Polizei fahndet bislang vergeblich nach dem Attentäter - am Dienstag nahmen sie den Vater und fünf weitere Angehörige des mutmaßlichen Todesschützen fest.

Und ist der IS nicht sowieso schon überall?

Anders als in Europa stehen die islamistischen Kämpfer tatsächlich unmittelbar an Israels Pforten. Von der Grenze auf den Golanhöhen im Norden ist die IS-Miliz nur 40 Kilometer entfernt, überdies tummeln sich israelischen Sicherheitskräften zufolge im Grenzgebiet noch 600 Bewaffnete der Yarmouk-Märtyrer-Brigade, die sich dem IS angeschlossen haben. Und auch im Süden, jenseits der Grenze zur ägyptischen Sinai-Halbinsel, unterhalten die Kräfte des Kalifats eine kampfbereite Filiale.

"Wir haben Palästina keine Sekunde lang vergessen"

Derzeit sind die Milizen zwar noch anderweitig beschäftigt im syrischen Bürgerkrieg sowie in der Auseinandersetzung mit der ägyptischen Staatsmacht. Doch dass sie zumindest propagandistisch Israel im Visier haben, bestätigte in einer Audiobotschaft jüngst Abu Bakr al-Bagdadi persönlich. "Wir haben Palästina keine Sekunde lang vergessen. Bald, mit Gottes Erlaubnis, werdet ihr die bebenden Schritte der Mudschahedin vernehmen", dröhnte der Kalif. "Juden, bald werdet ihr von uns hören, Palästina wird euer Friedhof werden." Bereits zuvor waren ähnliche Drohungen in zwei Videos ausgestoßen worden - von IS-Kämpfern in bestem Hebräisch.

Das hat den Schin Bet alarmiert, Israels Inlandsgeheimdienst, der vor einer Unterwanderung der israelischen Araber durch die PR-starken Islamisten warnt. Bislang sind nach Geheimdienstangaben allerdings höchstens 50 israelische Araber dem Ruf des IS gefolgt und in den "Heiligen Krieg" in Syrien gezogen - zumeist über die Türkei-Route.

Mit dem Gleitschirm nach Syrien

Einer erregte auch Aufsehen, als er im Oktober von den Golanhöhen aus mit einem Gleitschirm nach Syrien hinüberflog, um sich den Kämpfern anzuschließen. Im Vergleich zu Europa und angesichts von zwei Millionen Arabern mit israelischem Pass sind das wahrlich keine großen Zahlen. Aber die Gefahr könnte darin liegen, dass die IS-Infizierten zum Kämpfen gar nicht ins Ausland müssen. Schließlich bietet sich auch der israelisch-palästinensische Konflikt als Schlachtfeld an.

In arabischen Regionen im Norden Israels sowie unter Beduinen in der Negev-Wüste beobachtet der Schin Bet Berichten zufolge einen besorgniserregenden "Trend" zur Identifikation mit den Islamisten. Mehrere Zellen rund um Nazareth und die Negev-Stadt Hura wurden bereits ausgehoben. Unter jungen Palästinensern im besetzten Westjordanland könnte zudem die verbreitete Frustration über die beiden im Bruderkampf verstrickten Fraktionen Fatah und Hamas manche zu einem dritten Weg in die Gewalt verleiten.

Die Doppelstrategie der Hamas

Die seit Oktober verbreiteten Messer-Attacken weisen auf Einflüsse des IS hin. Schließlich haben dessen Kämpfer das blutige Schlachtermesser zur Dschihad-Ikone erhoben. Der Gazastreifen, der weitgehend von der Außenwelt abgeriegelt ist, bietet ohnehin einen idealen Nährboden für Extremisten aller Art. IS-affine Salafisten werden verantwortlich gemacht für eine Serie von Raketen-Angriffen auf Israel. Die Hamas scheint dabei wie so oft ein doppeltes Spiel zu spielen: Im Innern des Küstenstreifens bekämpft sie die Dschihadisten, weil sie zu einer Bedrohung ihrer Macht heranwachsen könnten. Auf dem benachbarten Sinai dagegen wird zum Beispiel beim Waffenschmuggel weidlich kooperiert.

Auch ein Kleriker im fernen Saudi-Arabien kann wohl den Israelis die wachsende Angst vor dem IS nicht nehmen. Großmufti Abdul Asis al-Sheikh, der oberste Kleriker des Königreichs, hatte sich jüngst zu der kruden Verschwörungsthese verstiegen, dass es sich bei den IS-Milizionären in Wirklichkeit doch nur um verkleidete israelische Soldaten handele.

Die echten israelischen Sicherheitskräfte machen indes weiter Jagd auf den Attentäter von Tel Aviv. In einem nördlichen Vorort stießen sie dabei auf ein im Umbau befindliches Haus, über dem eine IS-Flagge wehte. Ein mysteriöses Zeichen in einer aufgewühlten Stadt.

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