Süddeutsche Zeitung

Teilnehmer bei Demonstrationen:Die Volksverzählung

Bei Stuttgart 21 ist eine ungeschriebene Regel deutscher Demonstrationen besonders drastisch zu beobachten: Die Initiatoren einer Kundgebung zählen mehr Teilnehmer als die Polizei. Wie entstehen diese Zahlen?

Corinna Nohn

Einmal werden sie sich noch auf dem Arnulf-Klett-Platz vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof versammeln. Es ist die letzte Montagsdemonstration in diesem Jahr, dann nehmen auch die Gegner von Stuttgart 21 ihre Weihnachtspause, bis zum 10. Januar.

Wie immer treffen sie sich um 18 Uhr, über den Köpfen Plakate mit der Aufschrift "Oben bleiben", und anschließend werden sich Veranstalter und Polizei voraussichtlich streiten, wie viele Menschen denn tatsächlich demonstriert haben - so ist das schließlich bei jeder Demo. Am vergangenen Montag hat die Stuttgarter Polizei 2000 Demonstranten gezählt, die Veranstalter hingegen mehr als 5000; bei der letzten Großdemo in diesem Jahr am 11. Dezember stand es sogar 50.000 zu 16.000.

In Stuttgart ist besonders drastisch zu beobachten, was eine ungeschriebene Regel zu sein scheint: Die Initiatoren einer Kundgebung zählen mehr Teilnehmer als die Polizei. Die Behörden attestieren den Veranstaltern dann gern Marketing für die eigene Sache, die Demonstranten sagen, sie würden von der Staatsmacht getäuscht. Vielleicht ist aber alles schlicht eine Frage der Technik.

So greift die Polizei bei ihrer Zählweise - ob in Stuttgart, München oder Hamburg - auf eine Mischung aus geographischer Rasterung, Erfahrung und Gutdünken zurück, um die Zahl der Demonstranten zu ermitteln: Zuerst teilen die Beamten die Fläche, auf der demonstriert wird, in Quadrate ein. Dann zählen sie die Köpfe in einem Rasterfeld oder schätzen die Anzahl der Personen - meist von einem hohen Haus aus, manchmal mit Hilfe von Luftaufnahmen. Schließlich rechnen sie auf die gesamte Fläche hoch.

Auch Mathematik-Laien ist klar, dass bei diesem Verfahren kleine Fehleinschätzungen große Auswirkungen auf das Ergebnis haben. Und alleine die Annahmen, wie viele Menschen auf einen Quadratmeter passen, unterscheiden sich erheblich: So gibt die Stuttgarter Polizei an, "bei zwei Personen pro Quadratmeter stehen die Leute schon eng", in Berlin oder Köln hingegen sollen auf derselben Fläche doppelt so viele Platz haben. Hinfällig ist diese Methode, sobald sich die Masse bewegt. Deshalb stellt die Polizei bei Protestzügen Posten an Straßen auf, deren Breite sie kennt, zählt die vorbeimarschierenden Reihen - und rechnet hoch.

"Ich habe diese Streiterei satt"

Matthias Kästner, der das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 unterstützt, hält von all diesen Verfahren nichts. Er kommt aus dem Veranstaltungsmanagement, "wo es aus Sicherheitsgründen ganz wichtig ist, die Leute präzise zu zählen''. In Stuttgart hat er einen Trupp Freiwilliger mit sogenannten Schusszählern ausgerüstet: Das sind kleine Apparate, die man in der Hand hält und auf die man mit dem Daumen klicken kann - pro Demonstrant ein Klick.

Die Zähler postieren sich an den Zugängen von Plätzen oder bilden auf der Straße eine Art Schleuse, wo alle Demonstranten durchgehen müssen. "Wir zählen keine Polizisten oder Zugreisende mit, und am Ende ziehe ich sogar noch mal zehn Prozent ab, weil immer mal jemand hin- und herläuft. Trotzdem kommen wir jedes Mal auf höhere Zahlen als die Polizei", sagt Kästner. Er glaubt deshalb, die Stuttgarter Behörden publizierten auf Druck der Landesregierung falsche Zahlen. Polizeisprecher Stefan Kreilbach seufzt da nur und sagt: "Ich habe diese Streiterei satt."

Das sagt auch der Sprecher der Berliner Polizei. Die hat aus dem Streit folgende Konsequenz gezogen: Sie zählt zwar weiterhin, veröffentlicht das Resultat aber nicht mehr.

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Quelle:
SZ vom 20.12.2010/jab
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