Wer in diesen Tagen mit Boris Pistorius zu tun hat, begegnet einem Mann in zwei Rollen. Noch ist der SPD-Politiker geschäftsführender Verteidigungsminister des scheidenden Kanzlers Olaf Scholz. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aber amtiert er demnächst als Verteidigungsminister in der schwarz-roten Koalition unter Friedrich Merz (CDU). Mit seiner Ankündigung, der von Russland überfallenen Ukraine in Abstimmung mit Partnern den von Scholz verweigerten Marschflugkörper Taurus liefern zu wollen, hat Merz Pistorius daher in eine heikle Lage gebracht.
Es stimme gar nicht, dass er schon immer ein Befürworter der Taurus-Lieferung gewesen sei, versicherte Pistorius am Montagabend auf einer SPD-Veranstaltung in Hannover. Das habe er „nie gesagt“. Für die Lieferung von Taurus gebe es zwar gute Argumente, es gebe aber auch „viele Argumente, gute Argumente dagegen“. Nur einen Teil davon könne man öffentlich diskutieren. Wenn Merz sich mit den europäischen Partnern abstimmen wolle, müsse man überdies wissen, dass die über ein solches System gar nicht verfügten.
Im Wahlprogramm der SPD stand, Deutschland und Nato dürften nicht selbst zur Kriegspartei werden
Pistorius’ Skepsis ist zweierlei geschuldet: Zum einen geht es nun darum, die Mehrheit der rund 358 000 stimmberechtigten SPD-Mitglieder für den Koalitionsvertrag mit der Union zu sichern. Gerade in Ostdeutschland ist die Taurus-Frage hochumstritten. Und zum anderen stand im Wahlprogramm der SPD für die Bundestagswahl, Deutschland und die Nato dürften nicht selbst zur Kriegspartei werden: „Darum stehen wir zur Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz, den Marschflugkörper Taurus aus den Beständen der Bundeswehr nicht zu liefern.“ Es ist ungewöhnlich, dass so explizit ein einzelnes Waffensystem im Wahlprogramm auftaucht.
In der SPD-Bundestagsfraktion hatten sich nur sehr wenige offen für eine Lieferung ausgesprochen, am deutlichsten der nun aber aus dem Bundestag ausgeschiedene Außenpolitiker Michael Roth und der Verteidigungs- und Haushaltspolitiker Andreas Schwarz. „Liebe schwarz-rote Koalition in spe, bitte jetzt endlich machen, was andere Partner schon längst tun. Russland eskaliert auf Teufel komm’ raus. Da hilft nur Stärke“, forderte Roth auf der Plattform Bluesky. Der Taurus sei keine Wunderwaffe, „aber er rettet ukrainisches Leben“. Schwarz hingegen wollte sich auf Anfrage nicht äußern.
Intern gibt es Bemühungen, die Debatte nicht weiter zu befeuern, um nach dem Nein führender Jusos zum Koalitionsvertrag und unterschiedlicher Auslegungen bei Union und SPD zu den Kompromissen beim Mindestlohn und einer Entlastung unterer und mittlerer Einkommen das Werben für die Koalition nicht weiter zu erschweren. Denn viele SPD-Mitglieder fordern mehr Ansätze für diplomatische Lösungen, auch wenn Wladimir Putin hier bisher keine Bereitschaft erkennen lässt.
Die Frage kann zu einer Belastungsprobe für die neue Koalition werden. Vor der jüngsten Wortmeldung von Merz hatte SPD-Chef Lars Klingbeil betont, alle Entscheidungen würden gemeinsam getroffen, „wenn es drum geht, die Ukraine zu stärken“. In der Ampelkoalition hatte Scholz bei Waffenlieferungen das letzte Wort für sich beansprucht. Das Nein zur Lieferung von Taurus setzte er gegen FDP und Grüne durch.
Diskussionen über einen Schlag auf die Brücke zur Krim
Der Marschflugkörper wird zwar nicht als „Gamechanger“ gesehen, der die Lage der Ukraine fundamental ändern würde, aber als ein Mittel, um russische Nachschubwege zu zerstören. Diskutiert worden war, mithilfe von Taurus die Kertsch-Brücke auf die von Russland besetzte Halbinsel Krim zu zerstören, um den Nachschub für in der Ukraine kämpfende russische Truppen abzuschneiden. Darauf verwies auch Merz in der ARD-Sendung „Caren Miosga“.
Nach Ansicht von Experten hat dieses Ziel aktuell an Bedeutung verloren. Von großem Wert wäre der Taurus mit seiner Reichweite von etwa 500 Kilometern aber, um Flughäfen und Plätze zu treffen, von denen aus russische Bomber oder Drohnen zu Angriffen auf die Ukraine starten. „Die militärischen Fähigkeiten des Taurus werden weiterhin gebraucht – jetzt oder für den Fall, dass ein Waffenstillstand abgesichert werden muss“, sagt der Sicherheitsexperte Nico Lange.
In einer von russischen Diensten mitgeschnittenen Schalte führender Bundeswehr-Offiziere waren im vergangenen Jahr für ein Briefing von Minister Pistorius einige Details publik geworden. Der Inspekteur der Luftwaffe betonte in der Schalte, es sei bei einer politischen Entscheidung denkbar, 50 und später weitere rund 50 Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu schicken. Doch zu so einer politischen Entscheidung kam es nie. Denn aus Sicht des Kanzleramts war das Problem die Zielkontrolle. Auf die Zusicherung der ukrainischen Regierung, dass sie ausgeschlossene Ziele nicht angreifen würde, wollte Kanzler Scholz sich nicht verlassen.
Zugleich fürchtete er, eine Kontrolle seitens der Bundeswehr könnte als deutsche Kriegsbeteiligung ausgelegt werden. „Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden“, erläuterte er seine Ablehnung. Scholz ging außerdem davon aus, dass ohne einen Bundestagsbeschluss eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gedroht hätte.
Aus Sicht von Lange kommt es nun vor allem darauf an, den Taurus in größerer Stückzahl nachzubestellen, um im Falle von Lieferungen an die Ukraine über ausreichend Ersatz für die Bündnisverteidigung zu verfügen. Zum Taurus als Abstandswaffe, die aus sicherer Entfernung eingesetzt werden kann, gebe es derzeit keine Alternative. „Das große Versäumnis der Scholz-Regierung war es, dass sie die industriellen Vorbereitungen nicht getroffen hat“, kritisiert er. Das müsse nun nachgeholt werden.