Süddeutsche Zeitung

Öffentlicher Dienst:"Streiken kann man auch mit 1,5 Metern Abstand"

In Potsdam beginnt die Tarifrunde für die Beschäftigten von Bund und Kommunen. Die Verhandlungen zu Pandemie-Zeiten sind kompliziert.

Von Henrike Roßbach, Berlin

Es ist unwahrscheinlich, dass an diesem Dienstag im Potsdamer Kongresshotel Entscheidendes geschieht. Das aber ist normal für den Verhandlungsauftakt zu einer Tarifrunde; beim ersten Treffen mit den Gewerkschaften haben die Arbeitgeber selten direkt ein Angebot im Gepäck. Auch in der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen, die jetzt beginnt, dürfte das nicht anders sein. Sonst aber ist wenig normal an dieser Tarifrunde, deren Kulisse die Corona-Krise ist.

Die Pandemie hat die Sichtbarkeit und Wertschätzung von Klinikbeschäftigten, Müllwerkern, Erzieherinnen und Verwaltungsmitarbeitern deutlich gesteigert. Gleichzeitig aber hat sie die Kassen von Bund und Kommunen strapaziert. 4,8 Prozent mehr Geld, mindestens aber 150 Euro mehr im Monat, wollen Verdi und Beamtenbund rausholen - was sie für einen guten Kompromiss zwischen Wertschätzung der Mitarbeiter und krisenbedingter Rücksichtnahme erklären.

Die Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeber (VKA) dagegen bezeichnet die Forderung als "völlig überzogen" und verweist auf die wirtschaftliche Lage. "Wir sehen das Umfeld", sagt Christine Behle, die im Verdi-Vorstand für den öffentlichen Dienst zuständig ist, "aber wir wollen auch nicht, dass die Beschäftigten abgehängt werden."

Ihr Vorsitzender Frank Werneke will erreichen, dass die Gesundheitsberufe im Mittelpunkt dieser Tarifrunde stehen. "Riesenerwartungen" gebe es in der Pflege, sagt er, "aber es wurden ja auch riesige Versprechen gemacht". Den Gewerkschaftern ist bewusst, dass es den Arbeitgebern in der Krise leichter fallen könnte, einen kräftigen Lohnanstieg zu verweigern als in den Boomzeiten vor Corona. Dass die VKA es abgelehnt hatte, die Tarifrunde um ein paar Monate zu verschieben, versüßt mit einer Einmalzahlung, hat man ihr bei Verdi übel genommen.

Was Streiks betrifft, nennt der Verdi-Chef die Kitas "den sensibelsten Bereich"

Werneke sagt, dass die Gewerkschaft im Zweifel viel Unterstützung bekommen würde von den Beschäftigten, sollte es auf Streiks oder andere Aktionen hinauslaufen. Auf Großkundgebungen will Verdi aber verzichten, sollte die Pandemie bleiben, wie sie derzeit ist. "Aber wenn es notwendig ist, kann man auch mit 1,5 Metern Abstand streiken", sagt Werneke. Behle weist noch auf einen anderen Aspekt hin: Sollte es zu einer Schlichtung kommen - es gibt im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen eine Schlichtungsvereinbarung - ist der stimmberechtigte der beiden Schlichter dieses Mal der von Verdi benannte, nicht der der Arbeitgeber.

Das eine ist die Unterstützung und Kampfbereitschaft der eigenen Leute. Das andere aber ist die öffentliche Wahrnehmung einer Tarifauseinandersetzung. Könnte die Duldsamkeit von Eltern nicht schnell überstrapaziert sein, wenn ihnen nach monatelang geschlossenen Kitas nun ein Streik in die Quere kommt?

Werneke sagt zunächst, dass er bislang nicht den Eindruck habe, die Bürger hielten seine 4,8-Prozent-Forderung für "aus der Welt gefallen". Mit Blick auf die Kitas aber lässt er schon durchblicken, dass auch Verdi Kindergärten und Krippen als heikles Terrain betrachtet - oder wie er es nennt, als "den sensibelsten Bereich". Die Kolleginnen dort aber wollten sich auf jeden Fall "sichtbar machen". Überhaupt betont Werneke, dass dies auch eine Tarifrunde der Frauen sei; schließlich arbeiteten überdurchschnittlich viele Frauen in den für systemrelevant erklärten Berufen, um die es in dieser Runde geht.

Von der pandemischen Großwetterlage wollen sich die Gewerkschaften nur bis zu einem gewissen Grad in ihren Möglichkeiten einschränken lassen: "Falls wir eine Situation mit stark steigenden Infektionszahlen kriegen", sagt Werneke, "werden wir die Tarifrunde unterbrechen."

Verdi verhandelt für kleinere Gewerkschaften wie etwa die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) oder die Gewerkschaft der Polizei (GdP) mit; mit dem Beamtenbund besteht eine Verhandlungsgemeinschaft. Bei den Arbeitgebern verhandelt für den Bund Innenminister Horst Seehofer (CSU), für die Kommunen der Lüneburger Oberbürgermeister Ulrich Mädge (SPD).

Seehofer kann diesem Dienstag und auch den weiteren Verhandlungstagen, die bislang für den 19. und 20. September sowie den 22. und 23. Oktober angesetzt sind, etwas entspannter entgegensehen als Mädge. Denn direkt von der Tarifrunde betroffen sind beim Bund nur 145 000 Beschäftigte. Selbst wenn der Abschluss auch auf die 351 000 Bundesbeamten und alle Pensionäre übertragen würde, wären das immer noch deutlich weniger Menschen und damit Kosten als in den Kommunen, wo für gut 2,2 Millionen Beschäftigte verhandelt wird. Ein Prozentpunkt mehr Geld im öffentlichen Dienst kostet den Bund mit Beamten und Pensionären 268 Millionen Euro - die Kommunen aber mehr als eine Milliarde.

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SZ vom 01.09.2020/smh
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