Es ist ein doppelter Propagandaerfolg für die Taliban. Die Aufständischen überziehen Kabul mit einer Serie von koordinierten Attacken. In kurzen Abständen sind schwere Explosionen zu hören, die Feuergefechte hielten auch am Abend noch an. Es sei der Beginn der Frühjahrsoffensive, erklärt ihr Sprecher einer Nachrichtenagentur. Und die pakistanischen Gotteskrieger wiederum befreien am gleichen Tag 380 Insassen aus einem Gefängnis in der Stadt Bannu - ganz in der Nähe zum afghanischen Grenzgebiet. Darunter befinden sich zahlreiche Taliban, angeblich ist auch der Mann dabei, der einst den pakistanischen Präsidenten General Pervez Musharraf ermorden wollte.
Der Tag in der staubigen Metropole Kabul hatte wie viele andere in den vergangenen Monaten begonnen: Bis auf den chaotischen Verkehr ist die Situation normal. Der Sonntag gehört in Afghanistan nicht zum Wochenende, also machen sich die Menschen auf den Weg in die Büros, sie besuchen die Basare. Kinder erbetteln zwischen den wartenden Autos ein paar Afghani-Scheine. Das Leben nimmt seinen gewohnten Gang. Mit dem Risiko, dass jederzeit etwas passieren kann, haben Afghanen zu leben gelernt: "Wenn wir uns immer nur von der Angst leiten lassen würden, könnten wir gar nicht mehr vor die Tür gehen", sagt ein junger Mann in Kabul. Sicher sei nur die Unsicherheit.
Die Taliban wollen ihre Stärke demonstrieren, die Informationsabteilung der Internationalen Schutztruppe (Isaf) hält dagegen. Schon zu einem Zeitpunkt, an dem die Gefechte noch andauern: Die afghanischen Sicherheitskräfte hätten die Führung im Kampf gegen die Angreifer inne, Isaf-Berater seien nur vereinzelt im Einsatz, heißt es von Seiten des Bündnisses. Ob das stimmt, lässt sich unabhängig nicht verifizieren.
Afghanische Sicherheitskräfte sollen verteidigen
In der Theorie ist es so vorgesehen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte verteidigen, die Hauptstadt ist schon lange in ihrer Verantwortung. Am Sonntag ist es indes der einheimischen Polizei und Armee nicht gelungen, die Großattacke zu vereiteln. Auch wenn die Taliban-Strategie an einen Angriff aus dem vergangenen Jahr erinnere, als unter anderem das Botschaftsviertel unter Beschuss geraten war, die Taktik der Aufständischen sei dieses Mal wesentlich ineffektiver, erklärt Isaf.
Dabei knallt es an zahlreichen Ecken in Kabul. Nicht nur im Diplomatenviertel, in dem regelmäßig Schüsse und Explosionen zu hören sind. Die deutsche Botschaft ist betroffen, genau wie die britische und die amerikanische Vertretung. Die deutschen Diplomaten suchen in einem Schutzraum Zuflucht. Auch die Amerikaner ordnen ihrem Personal an, sich in Sicherheit zu bringen. Die deutsche Botschaft meldet Sachschaden, von den Mitarbeitern sei aber niemand zu Schaden gekommen, ist zu erfahren.
Das erst kürzlich eröffnete Kabul Star Hotel in der Innenstadt sollen die Aufständischen unter ihre Kontrolle gebracht haben, auch Rohbauten nutzen sie offenbar als Basis für den Beschuss, wie es aus Sicherheitskreisen heißt. Attentäter sind offenbar auf das Parlamentsgelände eingedrungen, die Taliban erklären, auch das Areal des Präsidentenpalastes beschossen zu haben. Ein unabhängiger Beobachter ist sich sicher, dass es dort tatsächlich zu Detonationen gekommen sei. Die Meldungen überschlagen sich, gesicherte Erkenntnisse über den Ablauf oder Opferzahlen gibt es am Sonntagabend noch nicht. Fest steht: Die Taliban bestimmen die Nachrichtenlage ganz in ihrem Sinne.
Keine Hoffnung auf Sicherheit
Eine Westlerin, die in der Nähe des Parlaments für eine afghanische Organisation arbeitet, berichtet von Schusswechseln, die etwa eine Stunde zu hören gewesen seien. Auch mindestens vier Explosionen habe es gegeben. Bei aller Aufregung berichtet die Frau auch von einem typisch afghanischen Phänomen. In den Gegenden Kabuls, die nicht von den Attacken betroffen sind, läuft das Leben normal weiter. Die Einheimischen verstecken sich nicht in ihren Wohnungen: "Die Eisverkäufer sind unterwegs, und die Menschen gehen weiter einkaufen", berichtet die Westlerin.
Ein Taxifahrer in Kabul, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will, sagt: "Wir haben seit 30 Jahren immer wieder Kriege erlebt, warum sollte es auf einmal vorbei sein?" Es ist eine Frage, auf die er keine Antwort erwartet. Inzwischen habe er es sich abgewöhnt, auf ein wirklich sicheres Leben zu hoffen, sagt der 44-Jährige. Phasen der Hoffnung auf mehr Stabilität seien immer wieder enttäuscht worden. Die Taliban könnten offenbar zuschlagen, wann und wo sie wollten. "Wir haben gelernt, auch mit unberechenbaren Tagen zu leben", sagt der Taxifahrer. Genau das ist das Kalkül der Islamisten: Unberechenbare, spektakuläre Attacken in großem Stil. Am Sonntag ist ihnen das gelungen. Wieder einmal.