Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Von den Taliban aus dem Leben verbannt

Die Islamisten wollen nun auch Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen die Arbeit verbieten. Bei den Taliban haben sich die Hardliner durchgesetzt, der Erlass ist der nächste Schritt in einem Kampf, der nur Verlierer kennt.

Von Tobias Matern

Für Fatima ist am Wochenende eine Welt zusammengebrochen. Die Afghanin hatte in Herat für eine Hilfsorganisation gearbeitet. Es war einer der letzten Bereiche in ihrem Leben, den sie noch selber gestalten durfte. Doch nun haben die Taliban ein neues frauenfeindliches Dekret erlassen, das auch Fatima hart trifft: Die Islamisten untersagen Nichtregierungsorganisationen, Mitarbeiterinnen zu beschäftigen - weil zu viele von ihnen gegen das Verschleierungsgebot verstoßen hätten.

Es sei grausam, "wir dürfen nicht mehr zur Arbeit gehen", schreibt Fatima in einer Textnachricht an die SZ am Montag. Aus Furcht vor Repressalien der Taliban bittet sie darum, dass weder ihr richtiger Name noch der Name ihrer Organisation genannt werden. "Niemand hört uns oder versteht uns, weil niemand ein so bitteres Schicksal erleiden muss wie wir." Der Erlass ist der nächste Beleg dafür, dass die Islamisten wie bereits zur Zeit ihrer ersten Herrschaft in den Jahren 1996 bis 2001 Frauen aus dem öffentlichen Leben verbannen wollen.

Die Kritik aus dem Westen an dem neuen Arbeitsverbot war massiv, aber zunächst folgenlos. Nach der Anordnung der Taliban setzten mehrere internationale Hilfsorganisationen ihre Arbeit im Land aus. Die drei Nichtregierungsorganisationen (NGO) Save the Children, Care International und Norwegian Refugee Council teilten in einer gemeinsamen Stellungnahme mit, ihre Programme würden zunächst eingeschränkt. "Ohne unsere weiblichen Mitarbeiter können wir Kinder, Frauen und Männer in Afghanistan in ihrer Not nicht wirksam erreichen", erklärten die drei NGOs.

Ausbildung gibt es nur noch bis zur 6. Klasse

Die Vereinten Nationen (UN) forderten umgehend die Aufhebung des Dekrets. Darauf habe der Leiter des UN-Unterstützungseinsatzes in Afghanistan (Unama), Ramiz Alakbarov, bei einem Treffen mit dem afghanischen Wirtschaftsminister Mohammad Hanif gedrungen, teilte die Organisation am Montag mit. "Millionen Afghanen brauchen humanitäre Hilfe, und die Beseitigung von Barrieren ist lebenswichtig." Dass solche Appelle bei den Taliban auf offene Ohren stoßen, ist aber unwahrscheinlich.

Die Taliban waren im August 2021 wieder an die Macht gekommen. Die gewählte afghanische Regierung kollabierte, der Westen verließ nach 20 Jahren Einsatz am Hindukusch gedemütigt das Land. Die Hoffnung unter Diplomaten war, dass zumindest die für Frauen in Afghanistan erzielten Fortschritte beibehalten werden könnten und die Islamisten sich auf eine Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft einlassen würden.

Die Taliban haben jedoch immer wieder deutlich gemacht, dass sie die universellen Menschenrechte für Frauen nicht anerkennen. Sie erließen Verbote für Afghaninnen, allein zu reisen und Parks zu besuchen; Mädchen dürfen von der 7. Klasse an in weiten Teilen des Landes nicht mehr in die Schule gehen. In der vergangenen Woche kam das Dekret hinzu, dass Frauen auch keine Universitäten mehr besuchen dürfen.

International sind die Taliban daher isoliert, weite Teile des afghanischen Vermögens wurden eingefroren. Das Arbeitsverbot für Frauen bei NGOs trifft die Bevölkerung besonders hart, da diese Einrichtungen ein Minimum an Versorgung für die Afghaninnen und Afghanen ermöglicht haben. Millionen Menschen am Hindukusch müssen hungern, die wirtschaftliche Situation ist nach dem Abzug des Westens noch prekärer als zuvor schon. So bringt die neue Entscheidung der Taliban nur Verlierer hervor: Frauen, weil ihnen ein weiteres Grundrecht genommen wird. Familien, weil viele Frauen nun nicht mehr arbeiten und Geld verdienen dürfen. Und auch die Islamisten selbst, weil sie sich die Möglichkeit nehmen, internationale Hilfe zu erhalten.

"Ein Verbrechen gegen die Menschenwürde"

Deutlich wird immer mehr: In den Reihen der Islamisten haben sich die Hardliner durchgesetzt. Die nun erlassenen Verbote ließen sich in keiner Weise mit dem Islam in Einklang bringen, sagte Sima Samar, die frühere Chefin der afghanischen Menschenrechtskommission, der SZ. "Dieser Schritt ist ein Verbrechen gegen die Menschenwürde und sollte als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesehen werden", fügte sie an. Samar, die nach der Machtübernahme der Taliban ins Exil in die USA gegangen ist, hofft darauf, dass eine breite Protestwelle gegen die Islamisten in Afghanistan entstehe.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte, er sei entsetzt über die Entscheidung. Die Taliban müssten das Arbeitsverbot für Frauen bei NGOs unverzüglich wieder aufheben. "Gemeinsam mit anderen Gebern von Hilfe für das afghanische Volk wird die EU abwägen müssen, welche Folgen diese Entscheidung und die jüngste Entscheidung der Taliban, die Universitäten für Frauen zu schließen, für ihr Engagement mit unseren Ländern und Organisationen haben werden", teilte Borrell mit. Auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kritisierte das Verbot scharf: Die Taliban "rauben der Hälfte der Bevölkerung ein weiteres Grundrecht, brechen humanitäre Prinzipien und gefährden die lebenswichtige Versorgung der Menschen". Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) erklärte, sie trete dafür ein, dass "die gegenwärtige Unterstützung, die wir mit anderen leisten, zunächst suspendiert wird".

Niemand traue sich, die Stimme zu erheben

Trotz dieser Drohungen sind die Möglichkeiten des Westens seit dem militärischen Abzug begrenzt. Bislang ist es den Islamisten wichtiger, ihre Auslegung der Scharia umzusetzen, statt gute Beziehungen auf internationaler Bühne zu unterhalten. Die Taliban fühlen sich durch ihren Sieg nach Jahren des Kriegs beflügelt und wollen ihre fundamentalistische Ideologie implementieren - zulasten des eigenen Volkes.

Fatima, die nun nicht mehr arbeiten darf, hat wenig Hoffnung, dass sich an ihrer verzweifelten Lage bald etwas ändern wird. "In meiner Stadt spürt man überall den Schmerz, aber niemand traut sich, die Stimme zu erheben", schreibt sie.

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