Tagung zu Schleusern:"Wichtig ist, ob der Schlepper seinen Job macht"

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Illegale Einwanderer, aufgegriffen in Rosenheim (Foto: Claus Schunk)
  • Der Bayerische Flüchtlingsrat hat eine "Internationale Schlepper- und Schleusertagung" veranstaltet.
  • Die Teilmehmer widersprechen dem gängigen Bild vom kriminellen Schlepper.
  • Ihnen zufolge stehen Schlepper auch in der Tradition der Fluchthelfer im Dritten Reich.

Von Ruth Eisenreich

Schlepper sind gewissenlose Kriminelle, die für ihren Profit Flüchtlinge in Gefahr bringen - so heißt es häufig. Sie werden verantwortlich dafür gemacht, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken oder in Lastwagen ersticken. Doch wird das dem Handeln der Schlepper gerecht?

Bei der provokativ als " Internationale Schlepper- und Schleusertagung" (ISS) betitelten Veranstaltung des Bayerischen Flüchtlingsrats in den Münchner Kammerspielen wurde ein anderes Bild gezeichnet. Die Tagungsteilnehmer haben sieben - diskussionswürdige - Thesen aufgestellt.

1. Schlepper stehen in der Tradition der Fluchthelfer während der NS-Zeit

Gute Fluchthilfe war früher, böse Schlepperei ist heute? Nein, sagt der Schweizer Historiker Stefan Keller. Schon zur Zeit der Nazi-Diktatur habe man von "Judenschleppern" gesprochen und dies abfällig gemeint. Keller hat lange zum Fall des St. Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger recherchiert, der in den Jahren 1938 und 1939 gegen die Vorschriften seiner Regierung Hunderte, vielleicht Tausende Flüchtlinge aus Hitler-Deutschland in die Schweiz einreisen ließ.

Tagung über Fluchthilfe, Guter Schlepper, böser Schlepper? (Video: Süddeutsche Zeitung)

"Manchen ließ er eine Vorladung zum Verhör in St. Gallen zukommen, mit der sie über die Grenze konnten", sagt Keller. "Er datierte Einreisen vor die Grenzsperre zurück, und Einzelne hat er wohl auch mit seinem Amtsauto geholt."

Grüninger sei fristlos entlassen, wegen Verletzung seiner Amtspflicht und Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe verurteilt und erst 1993 posthum rehabilitiert worden. Inzwischen seien nach ihm Plätze, Straßen und Schulen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Israel benannt.

Grüningers Rehabilitation, sagt Keller, habe auch deshalb so lang gedauert, weil man befürchtet habe, Polizisten könnten sich ein Vorbild an ihm nehmen und Abschiebungen verweigern. "Die Angst der Regierung war, dass man aus der Geschichte lernt."

2. Nicht die Schlepper haben sich geändert, sondern ihre gesellschaftliche Bewertung

"Auch in den 30er und 40er Jahren gab es kriminelle Fluchthelfer, die Leute im Niemandsland stehen haben lassen", sagt Keller. "Das passiert, wenn keine Kontrolle, keine Transparenz da ist." Der Journalist Stefan Buchen wiederum hat zu Fluchthilfe heute und in der DDR recherchiert. Er widerspricht der Annahme, dass alle DDR-Fluchthelfer selbstlose Wohltäter gewesen seien. "Auch in der DDR hat sich die Fluchthilfe mit der Zeit professionalisiert", sagt Buchen. "Manche Leute haben sich ihren Lebensunterhalt damit verdient." Trotzdem würden DDR-Fluchthelfer heute für ihre Arbeit mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Wie Historiker Keller festgestellt hat, ist es für die Rehabilitation eines Fluchthelfers aus der Zeit des Dritten Reichs egal, ob er Geld für seine Arbeit genommen habe oder nicht. "Auch für die Flüchtlinge spielte das keine Rolle. Wichtig ist für sie, ob der Schlepper seinen Job macht." Ähnliches berichten andere Diskussionsteilnehmer von heutigen Flüchtlingen: Wenn ein Schlepper sie sicher nach Europa bringe, empfänden sie es als legitim, dass er Geld dafür verlange.

Sogar der Bundesgerichtshof (BGH) hat einmal festgestellt, dass man für Fluchthilfe Geld verlangen darf. Zur Zeit der DDR, sagt Journalist Buchen, klagte einmal ein Schlepper seinen Lohn ein - und bekam recht. Der BGH erklärte, es sei nicht anstößig, eine Hilfeleistung von einer Bezahlung abhängig zu machen. "Eigentlich müssten sich Gerichte heute bei Schlepperurteilen dazu in irgendeiner Form verhalten", sagt Buchen, "aber der BGH hält es nicht einmal für nötig, darauf einzugehen."

Der Journalist Sammy Khamis führt bei der Tagung vor, wie die Schlepper-Suche in Zeiten von sozialen Medien funktioniert: Wer das Wort "Schleuser" auf Arabisch bei Facebook eingibt, kommt sofort auf eine Reihe von Schlepperseiten. "Man kann dort aussuchen, welcher Klasse man reisen möchte", sagt Khamis, "Wer genug Geld hat, kann mit einem gefälschten Visum innerhalb von drei Tagen erster Klasse nach Deutschland fliegen, egal von wo auf der Welt."

Vor allem aber könne man auf Facebook die Angebote verschiedener Schlepper vergleichen. "Facebook schafft einen Zwang zur Transparenz. Man kann Preise vergleichen und seinen Schlepper vorab auschecken, auch über Referenzen Dritter, die schon mit ihm gefahren sind", sagt Khamis. Als Werbung würden dabei Selfies und Videos von lächelnden Flüchtlingen auf Booten benutzt.

Außer wegen der Mundpropaganda hätten Schlepper aber auch wegen der üblichen Zahlungsmethode ein Interesse daran, dass ihre Kunden gut ankommen: Der Lohn der Schlepper werde oft über neutrale Gewährsmänner übergeben, sagt Khamis. Die würden ihn erst auszahlen, wenn der Flüchtling gut im Zielland angekommen ist.

Wie Khamis hat auch der italienische Journalist Giampaolo Musumeci mit vielen Flüchtlingen gesprochen, darüber hinaus hat er es auch geschafft, zwölf inhaftierte Schlepper zu treffen. Er sieht die Sache ähnlich wie Khamis - mit einer Ausnahme. "In Libyen sieht die Sache anders aus", sagt er. "Dort gibt es ein Monopol von nur vier Gruppen. Wenn du als Migrant einmal in Libyen bist, hast du keine Auswahl mehr, es gibt keine Konkurrenz wie in der Türkei oder auf der Balkanroute. Also sind die Preise stärker festgelegt - und die meiste Gewalt gegen Flüchtlinge passiert in Libyen."

Grenzkontrollen und Zäune können keine Flüchtlinge abhalten, da sind sich die Teilnehmer der Tagung einig. "Die Schlepper sind sehr gut organisiert, sie sprechen miteinander", sagt der Journalist Musumeci. "Sie reagieren auf jeden Schritt, den Europa macht. Wir bauen eine Mauer: Sie ändern die Route. Wir beschließen ein Gesetz: Sie analysieren es und finden einen Weg, es zu umgehen."

Die Migrationsforscherin Zeynep Kasli beschäftigt sich mit den Entwicklungen an der türkisch-griechischen Grenze. Sie schildert, welche Maßnahmen dort im Lauf der Jahre gesetzt wurden - ein Zaun, höhere Strafen - und wie sich die Routen und Strategien der Schlepper jeweils angepasst haben. Mal ging die Route über den Grenzfluss Evros, mal verlagerte sie sich an die türkisch-bulgarische Grenze, mal ging sie über die griechischen Inseln. Journalist Sammy Khamis weiß schon, wie es weitergehen könnte, wenn in Südosteuropa die Grenzen immer dichter werden: "Die nächste Route wird wohl über die Ukraine und Polen gehen, das wird in verschiedenen Foren diskutiert."

Giampaolo Musumeci schätzt, dass mit Schlepperei am Mittelmeer jährlich etwa eine Milliarde Euro umgesetzt wird. "Wo dieses Geld hinfließt, wissen wir einfach nicht", sagt er - womöglich in den Waffen- oder Drogenhandel oder in den Terrorismus. Zäune aber, sagt Musumeci, würden dagegen nicht nur nicht helfen: Sie förderten das Geschäft sogar. "Wenn du eine Mauer baust, machst du die Route länger und gefährlicher, und du zwingst die Migranten, sich immer mehr an Schleuser zu wenden." Für Schleuser sei also jede Grenze, jede Mauer Gold wert. "Je mehr Europa sich abzuschotten versucht, desto mehr nährt es kriminelle Aktivitäten", sagt Musumeci.

Die 71 Syrer, die die österreichische Polizei Ende August erstickt in einem Kühllaster nahe der ungarischen Grenze fand, sind auch auf der Schlepper- und Schleusertagung ein Thema, ebenso wie die vielen im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge. Trotzdem finden die Diskussionsteilnehmer, dass Schleppergesetze eigentlich abgeschafft gehören.

"Es werden alle möglichen Straftaten im Zusammenhang mit Fluchthilfe begangen", sagt der Journalist Stefan Buchen. "Aber die betreffen nicht direkt das Schleusen, sondern sind Begleitstraftaten, die Fluchthelfer begehen, wenn sie keine Achtung vor den Flüchtlingen haben." Wer keine solche "Begleitstraftat" begehe, solle auch nicht bestraft werden.

"Gegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung, unterlassene Hilfeleistung und so weiter gibt es bereits Gesetze", sagt auch der Rechtsanwalt Axel Nagler. Er findet die Strafen für Schlepperei nicht nur sinnlos, sondern sogar kontraproduktiv. "Die EU schafft selbst das kriminelle Milieu", sagt er. Die Kriminalisierung treibe die Preise in die Höhe: "Noch vor wenigen Wochen kostete eine Schleusung durch Mazedonien pro Person 500 bis 1000 Euro. Als Mazedonien die Grenze öffnete, sank der Preis schlagartig auf zehn Euro - die Kosten einer Zugfahrkarte." Aus der Drogenpolitik und anderen "Prohibitionsfeldern" wisse man, sagt Nagler, dass "gegen die damit verbundene Kriminalität nur eins hilft: Die Eliminierung des Gewinnfaktors Risiko. Die Legalisierung." Gäbe es mehr legale Wege nach Europa, wären die 71 Flüchtlinge nie in den Lkw gestiegen, in dem sie erstickt sind, und der kleine Aylan wäre vor der türkischen Küste nicht ertrunken.

Ein Viertel aller Menschen, die derzeit in österreichischen Gefängnissen säßen, sei wegen Schlepperei angeklagt, sagt die österreichische Aktivistin Katarzyna Winiecka. Sie erzählt von einem aufsehenerregenden Prozess in Österreich: Flüchtlinge, die gegen Mängel im österreichischen Asylsystem protestiert hatten, wurden der Schlepperei beschuldigt, die österreichische Innenministerin stellte sie als skrupellose Bande dar, die schwangere Frauen auf der Straße ausgesetzt und Millionen verdient habe. Vor Gericht blieb davon wenig übrig, die meisten Angeklagten wurden trotzdem verurteilt.

"Manche Anklagepunkte bezogen sich auf Fahrten mit der U-Bahn durch Wien", erzählt Winiecka, "in einem Fall wurde verhandelt, ob jemand als Dank für seine Hilfe eine Zigarettenpackung geschenkt bekommen hat." Schon die vor Gericht verwendete Sprache weise darauf hin, dass man unbedingt eine Straftat finden wollte: Flüchtlinge seien als "Opfer" ihrer Flucht bezeichnet worden - und die Flucht selbst als "Eigenschleppung".

Anwalt Axel Nagler, spezialisiert auf Strafverteidigung, Asyl- und Ausländerrecht, kennt ähnliche Fälle aus Deutschland. Die Zahl der Strafverfahren gegen Fluchthelfer sei zuletzt "sprunghaft" gestiegen, sagt er, "viele von ihnen gehören nicht vor ein Strafgericht". Ein Mandant sei in Bayern zu acht Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden, weil er in einem Gespräch gedolmetscht hatte, in dem es um einen Transport von Ungarn nach Deutschland ging. Und diese Strafe sei weniger harmlos als sie klinge: Selbst wer Bewährung bekomme, sei wegen der hohen Verfahrenskosten - oft werde in Schlepperprozessen Telefonüberwachung angeordnet - nach dem Prozess finanziell ruiniert.

So wie der in Syrien geborene Ingenieur Hanna L., dessen Fall der Journalist Stefan Buchen beschreibt. Ein Essener Gericht verurteilte L. 2013 wegen des "Einschleusens von Ausländern" zu 100 000 Euro Geldstrafe und zwei Jahren Haft auf Bewährung, weil er Syrern bei der Flucht nach Deutschland geholfen hatte. Das Gericht, sagt Buchen, habe L. jeden mildernden Umstand als strafverschärfend ausgelegt. Und dass Hanna L. seit Jahrzehnten in Deutschland lebte, einen festen, gutbezahlten Job hatte, mit einer Deutschen verheiratet war und nie zuvor mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war - das habe man so gedeutet, dass sich hier ein "im Mittelalter verhafteter" Terrorist hinter einer bürgerlichen Fassade tarnte. "Die Ermittler haben wohl ein bisschen zu oft Tatort gesehen", sagt Buchen.

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