Inspiriert wohl von Sebastian Haffners unmittelbar im englischen Exil 1938 begonnener Autobiografie "Geschichte eines Deutschen", hat sich der in Zürich lehrende Historiker Janosch Steuwer der Erfahrungs- und Gesellschaftsgeschichte der Etablierung des Nationalsozialismus zugewandt. Es war ja Haffner, der als einer der Ersten darauf verwies, dass "die Nazi-Revolution die alte Trennung zwischen Politik und Privatleben aufgehoben" habe.
Steuwer knüpft in seiner Analyse des Begriffs "Volksgemeinschaft" daran an: Wie bestimmten die Zeitgenossen ihr eigenes Verhältnis zum neuen Regime mitsamt neuen ideologischen Grenzziehungen, aber auch Veränderungen ihrer Position im alltäglichen Sozialgefüge. Bestehende Lebensweisen und Selbstreflexionen wurden plötzlich hinterfragt und neuen politischen Kategorien angepasst.
Dadurch tauchte eine neue Form der Privatheit auf, die der Autor anhand von etwa 140 bisher unveröffentlichten Tagebüchern der Jahre 1933 bis 1939 untersucht. Er attestiert diesen Quellen systematische Einsichten in das NS-Regime, wie sie anderswo hätten nicht erreicht werden können.
Man denke nur an die Tagebücher von Victor Klemperer. Steuwer trennt sie klar von retrospektiven Selbstzeugnissen wie Autobiografien oder Erinnerungen. Er wertet sie als Quelle sui generis, vor allem weil ihre Verfasser "den Stoff nicht vollständig kennen und nicht autonom über ihn verfügen können".
Mit der Zuschreibung einer antifiktionalen Authentizität der Tagebücher (vielfach aus dem Fundus des Deutschen Tagebucharchivs Emmendingen) versucht er einen neuen Zugang zum Wandel konkreter Verhaltensweisen nach dem Beginn der NS-Herrschaft zu rechtfertigen. Eine solch strukturelle Herangehensweise scheint wissenschaftliches Neuland zu sein.
Unterlegt von der generellen Frage nach der Bedeutung des Tagebuchschreibens für den Umgang mit der individuellen Herausforderung des NS, gleicht Steuwer alltägliches Verhalten mit der Lebenswirklichkeit ihrer Verfasser ab, um schließlich anhand vieler Gesprächswiedergaben in den Einträgen ihre Eigenwahrnehmung zu überprüfen. Damit nimmt er den Faden des Anfang der 1980er-Jahre abgeschlossenen Forschungsprojekts "Bayern in der NS-Zeit" auf.
Die soziale Dynamik der "Machtergreifung"
Dort ging es um die Vermittlung von Verhalten, nicht um Gewinnung historischer Erkenntnisse. Diese aber beansprucht Steuwer nun durch die Verschränkung individueller Lebensweisen mit Wahrnehmungen historischer Realitäten gewissermaßen aus dem Blickwinkel der Zeitgenossen heraus. Eine "history from within", statt der üblichen historiografischen Rückschau.
Dabei bedient er sich eines veränderten Gesellschaftsbegriffs, der nicht mehr auf Strukturen und langfristige Entwicklungstrends zurückgreift, sondern mittels kulturgeschichtlicher Ansätze die NS-Gesellschaft als spezifische soziale Konfiguration begreift, eindrucksvoll unter dem Topos "Volksgemeinschaft" abgehandelt.
Janosch Steuwer kritisiert, dass Tagebücher insgesamt in der Forschung zu wenig Aufmerksamkeit gefunden haben, daher auch nur wenig zum Verständnis der subjektiven Dimension des NS beigetragen konnten, weil sie "hiernach schlicht nicht fragen". So lautet seine zentrale Intention denn auch, anhand der Tagebücher der 30er-Jahre "das Spannungsverhältnis zwischen Herrschaft und Gesellschaft und somit die unterschiedlichen Formen des Erleidens, Erwehrens und Mitmachens der jeweiligen Verfasser" zu demonstrieren.
Mit großem Gewinn kann man so die Reaktion der damaligen Bevölkerung auf den Beginn der NS-Herrschaft und die soziale Dynamik, welche die "Machtergreifung" durch die Forderung nach individueller Einordnung entfaltete, nachvollziehen. Ebenso das Herantasten an eine individuelle Einordnung zum neuen Regime wie auch den sozialen Prozess einer Positionierung im NS-Regime.
Aus unmittelbarer Nähe lässt der Autor den Prozess allmählicher, ständig anwachsender, individueller wie kollektiver Isolation spürbar werden, welche die Bewohner einer Berliner Straße zu Fremden in der ihnen bislang so vertrauten Umgebung macht. Sehr subtil wertet er die beginnenden strukturellen Restriktionen im Sozialleben anhand der Tagebucheintragungen aus.
Unter dem Mantel der Euphorie über Hitlers Ernennung zum Reichskanzler ("Wer da nicht geweint hat, hat kein Herz in der Brust und ist kein Deutscher") kristallisierte sich schnell die Forderung heraus, "heute ist jeder ob Freund, Feind oder Neutraler gezwungen, zum Nationalsozialismus Stellung zu nehmen."
Darüber hinaus aber offenbaren die Tagebuchnotizen das ungleich drängendere Problem der persönlichen Zuordnung. Wer wollte schon in soziale Isolation geraten oder sich eigene Lebenschancen verstellen, indem man sich abseits stellte (notgedrungen erließ die NSDAP bis Mai 1933 einen Aufnahmestopp für neue Mitglieder, "um dem Massenandrang Herr zu werden")? Tagebücher wurden zu einem geschützten Raum individueller Reflexion, zumal öffentliche Kommunikation einer bis dahin unbekannten massiven Kontrolle unterlag.
Steuwer liest daraus, stärker als bislang von der Forschung angenommen, eine Ambiguität zwischen Kritik und Akzeptanz der Grundstrukturen. Deshalb reagierte die Partei 1934 auf die gefährliche Differenz von Konsens und Dissens mit der Etablierung des kompensatorischen Hitler-Mythos ("er allein ist unser großer Führer, die anderen waren nur seine Handlanger") - und auch mit dem Signal der Röhm-Putschmorde und Schleicher-Morde.
Das veränderte aber an dem Problem der Tagebuchverfasser, abgelehnte Erscheinungen der NS-Diktatur mit der eigenen Zuordnung in Einklang zu bringen, nichts. Vielmehr mussten die Autoren, so Steuwer, eine Identität entwickeln, mit der sie sich nicht zugleich auch als Nationalsozialist zu verstehen brauchten.
So faszinierend sich die akribische Exegese der selbstreflexiven Tagebucheinträge liest, nirgends löst sich die Struktur des "sowohl als auch" auf, man versuchte - jedenfalls innerhalb des Untersuchungszeitraums - die persönliche und öffentliche Positionsbestimmung in Einklang zu bringen.
Die Fragestellung nach der Zuordnung erweist sich dabei als weiterführend. Eine kompromisslose Kritik, etwa im Sinne Sebastian Haffners, findet sich in den Aufzeichnungen nur in Ausnahmefällen, weil angesichts enormer Unterdrückung bis in alle Teile des Privatlebens die Eintragungen eingestellt wurden. Auch die Form der Selbstrepräsentation unterlag letztlich dem Regimedruck.
Das wusste der NS-Staat und konnte das System zur Sicherung der eigenen Macht umbauen. Steuwer belichtet alle Facetten dieser Veränderungsdynamik in den gewandelten Sozialbeziehungen, das Erleben antisemitischer Gewalt, die NS-Erziehungspolitik mit ihren Auswirkungen auf die politische Selbstgestaltung der Zeitgenossen.
Nicht die Historiografie der Akteure, Institutionen, Ideologeme wie "Gemeinschaft", neues Körpergefühl, Erbbiologie sind ihm wichtig, sondern deren Verinnerlichung als Basis einer neuen, durchaus widersprüchlichen Selbstrepräsentation.
Doch die Umsetzung staatlicher Leitbilder vollzog sich anders als gedacht, fanden sie doch Eingang in private Selbstvorstellungen und Lebensweisen, womit die Anpassung an ideologische Vorgaben entfiel. Plastisch belegt er das anhand des Leseverhaltens. Hingegen entwickelten sich Schulungs- und Erziehungslager zu einem kollektiven Massenphänomen, was in den Tagebüchern eine fast euphorische Widerspiegelung erfuhr.
Der für manche vielleicht interessanteste Teil dieser Untersuchung behandelt die Frage, welche Meinung die Deutschen über das NS-Regime hatten, wie sie auf dessen Entscheidungen reagierten, wie die Bevölkerung in die Politikgestaltung einbezogen wurde und welchen Rückhalt sie bedeutete.
Auch hier überrascht Steuwers Vorgehen. Statt erneuter Auswertung der Lageberichte von Gestapo und Exil mit ihren bekannten kollektiven Zuschreibungen wie "Konsensdiktatur", "Zustimmungsdiktatur", wendet er sich dem Einzelnen und seiner individuellen Beschäftigung mit der Regierungspolitik zu.
Er glaubt, dass auch hier Tagebücher die Stimmungsberichte besser dokumentieren. Nur wurden sie so bislang nicht ausgewertet. Zitate vom November 1933 wie: "So schnell ich begeistert bin, so schnell kühle ich ab. Warum kommen mir immer nur wieder Zweifel? Warum kann ich nicht rücksichtslos glauben?", sagen viel über das Auswertungspotenzial aus. Bescheiden merkt der Autor an, dass er statt weiterer Begrifflichkeiten das Wissen ergänzen möchte, was "Zustimmung" unter den Bedingungen der NS-Diktatur meint.
"Warum kann ich nicht rücksichtslos glauben?"
So wies bereits Klaus Theweleit darauf hin, dass in Tagebuchaufzeichnungen nicht der Inhalt politischer Ansprachen reflektiert wurde, sondern vielmehr die Inszenierung eigener Gefühle. So auch Steuwers Annahme, dass die NS-Politik die Deutschen weniger durch Überzeugungen und Argumentationen geprägt habe, sondern durch inszenierte unpolitische Gefühle.
Wichtig war den Tagebuchschreibern stets eine "Übereinstimmung zwischen der eigenen Wahrnehmung und der propagandistischen Politikinszenierung her- und auszustellen". Das aber verweist auf ein ungleich komplexeres Verhalten, als es die gängige These einer vom "Hitler-Mythos" zusammengehaltenen Bevölkerung zeichnet.
Das Buch, hervorgegangen aus einer Bochumer Dissertation 2015, weist eine enorme argumentative Dichte auf, Thesen bis hin zu Bereichen feinster ideologischer Verästelung werden mit neuestem Forschungstand abgeglichen. Durch die Dechiffrierung dieser Tagebucheinträge eröffnet Steuwer eine neue Betrachtungsweise zum individuellen Handlungsspielraum der NS-Bürger zwischen Konformität und Abweichung.
Janosch Steuwer: "Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse". Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933 - 1939. Wallstein-Verlag, Göttingen 2017, 611 Seiten, 49,90 Euro. E-Book 39,99 Euro.
Der frühere SZ-Feuilletonredakteur Knud von Harbou ist Historiker und veröffentlichte 2015 ein Buch über die Gründungsgeschichte der SZ ("Als Deutschland seine Seele retten wollte").