"Tag des Sieges" in der Ukraine:Politisch aufgeladenes Gedenken

Der "Tag des Sieges" über Hitler-Deutschland hat in Russland und der Ukraine eine enorme symbolische Bedeutung. Wie die Geschichte plötzlich politisiert wird, zeigen die Eindrücke von sechs Fotografen, die in dem gespaltenen Land und auf der Krim unterwegs waren.

Von Jochen Hellbeck

15 Bilder

Jochen Hellbeck Ukraine 1

Quelle: ; oH / Eric Gourlan

1 / 15

Traditionell markiert der Tag des Sieges über Hitler-Deutschland einen der großen Feiertage im ukrainischen Kalender - ebenso wie im benachbarten Russland. In diesem Jahr hatten viele Menschen in der Ukraine auf den 9. Mai jedoch wie auf einen Schreckenstag gewartet. Sie fürchteten, dass die Unruhen zwischen der Regierung und den prorussischen Separatisten im Osten des Landes und der Schwarzmeerstadt Odessa durch den Feiertag weiter angeheizt werden könnten.

Das Zerwürfnis zwischen Kiew und Moskau hat auch Folgen für den Umgang mit dem 9. Mai in der Ukraine - der über die Jahre stark ritualisierte Vorgang erhält plötzlich wieder eine enorm politische Dimension.

Foto: Charkow am 6. Mai 2014

Zur Entstehung dieser Bildergalerie: Ein Team von sechs Historikern und sechs Fotografen besuchte am 9. Mai fünf Städte in der Ukraine (Kiew, Lemberg, Charkow, Donezk, Odessa) sowie Sewastopol auf der von Russland annektierten Krim. Verantwortlich für das Projekt sind der deutsche Historiker Jochen Hellbeck und der französische Fotograf Eric Gourlan. Sie wurden bei ihrer Arbeit von ukrainischen Wissenschaftlern und Fotografen unterstützt. Hellbeck lehrt an der Rutgers University und veröffentlichte mehrere Bücher über die sowjetische und russische Geschichte (zuletzt Protokolle russischer Augenzeugen über Stalingrad). Gourlan arbeitet oft in den früheren Ländern der Sowjetunion. Die beteiligten Mitarbeiter waren: Tetjana Pastuschenko (Kiew), Viktoria Naumenko (Charkow), Dmitrij Titarenko (Donezk), Iwan Karas (Kiew/Lemberg), Jelena Petrowa (Odessa) und Andrej Kochan (Simferopol).

Hellbeck Ukraine-Projekt 6

Quelle: ; oH / Eric Gourlan

2 / 15

Angst vor Ausschreitungen bestimmt in der ostukrainischen Stadt Charkow den Ablauf des "Tages des Sieges": Die Stadtverwaltung sagt die Parade für den 9. Mai kurzfristig ab. Noch am Tag zuvor üben Schülerinnen auf dem Platz der Freiheit vor der großen Lenin-Statue für die Parade. Der Platz dient auch als Versammlungsort der prorussischen Kräfte.

Hellbeck Ukraine-Projekt 7

Quelle: Eugen BOROVIK ; oH / Evgenij Borovik

3 / 15

Mehrere tausend Charkower trotzen am 9. Mai dem Demonstrationsverbot der Stadtverwaltung. Am Lenin-Denkmal entrollen sie ein riesiges Tuch in der Form eines Georgsbands. Das schwarz-orangene Band, das in der zarischen und sowjetischen Armee hohen Auszeichnungen vorbehalten war, gilt seit Jahren als Gedenkzeichen zum Tag des Sieges. Seit dem Sturz der Regierung von Viktor Janukowitsch im Februar 2014 findet es eine neue Verwendung: Viele Menschen in den russischsprachigen Landesteilen drücken mit dem Band ihre prorussische Einstellung aus. Von Maidan-Aktivisten werden sie "Kartoffelkäfer" genannt.

Hellbeck Ukraine-Projekt 9

Quelle: Àëåêñàíäð ×èæåíîê / Àëåêñàíäð ×è; oH / Alexander Chizhenok

4 / 15

Die Industriestadt Donezk befindet sich seit Wochen unter der Kontrolle einer separatistischen Bewegung. Die Aktionen am 9. Mai gipfeln in einer Kundgebung auf dem Leninplatz, die von Tausenden Stadtbewohnern besucht wird. Das Georgsband ist allgegenwärtig, ebenso wie die Flaggen Russlands, der Sowjetunion und der abtrünnigen "Donezker Volksrepublik".

Hellbeck Ukraine-Projekt 8

Quelle: Àëåêñàíäð ×èæåíîê / Àëåêñàíäð ×è; oH / Alexander Chizhenok

5 / 15

Ein Sprecher nach dem anderen ruft die begeisterte Menge bei der Kundgebung zum Kampf gegen die "faschistische Junta" in Kiew auf. Am Abend gibt es aus Donezk Berichte über neue Gefechte zwischen Regierungseinheiten und prorussischen Kräften. Es ist von Verletzten die Rede. Im weiter südlich im Verwaltungsbezirk Donezk gelegenen Mariupol eskaliert die Gewalt an diesem Tag. Es gibt mehr als 20 Tote.

Hellbeck Ukraine-Projekt 17a

Quelle: oH / Anton Khomutenko

6 / 15

Im russisch besetzten Sewastopol auf der Krim steht seit dem Morgen die gesamte Stadt auf den Beinen. Es ist unmöglich, in die ersten Zuschauerreihen vor zu dringen. Während die gewaltige Militärparade vorbei zieht, skandieren die Menschen: "Russland!", "Russland!" Und: "Danke!" "Danke!"

Hellbeck Ukraine-Projekt 18

Quelle: Anton Khomutenko ; oH / Anton Khomutenko

7 / 15

Die Menge ist euphorisch - vor allem, als Wladimir Putin etwa 200 Meter zu Fuß zwischen den Menschen entlanggeht. Auf diesem Bild winken die Menschen begeistert, als der russische Präsident direkt vor ihnen steht.

Hellbeck Ukraine-Projekt 15

Quelle: ; oH / Eric Gourlan

8 / 15

Russland-Begeisterung bestimmt auch in Odessa das Straßenbild - zumindest bei der Militärparade und vor dem Denkmal des unbekannten Matrosen. "Verteidiger des Heiligen Russlands" steht auf der Fahne mit dem Abbild Stalins. Ansonsten sind die Straßen im Zentrum der Stadt fast menschenleer. Aus Angst vor Anschlägen haben zahlreiche Bewohner die südliche Hafenstadt verlassen. Die Militärparade wurde zunächst abgesagt und dann wieder angesetzt. Trotz und Trauer kennzeichnen die Stimmung.

Hellbeck Ukraine-Projekt 16

Quelle: ; oH / Eric Gourlan

9 / 15

Einige der Teilnehmer ziehen anschließend zum Gewerkschaftshaus. Vor dem ausgebrannten Gebäude stehen Augenzeugen des Gemetzels vom 2. Mai, als ukrainische Nationalisten in Odessa mindestens 46 Menschen töteten, prorussische Demonstranten ebenso wie unbeteiligte Passanten. Die Kiewer Regierung machte russische Provokateure für das Gemetzel verantwortlich. Die Menschen beim Gewerkschaftshaus stehen wie unter Schock. Wie konnte so etwas in ihrer Stadt geschehen?

Hellbeck Ukraine-Projekt 17

Quelle: ; oH / Eric Gourlan

10 / 15

Singende Menschen mit Ikonen und orthodoxen Kreuzen ziehen um das Gewerkschaftshaus.

Hellbeck Ukraine-Projekt 10

Quelle: ; oH / Eric Gourlan

11 / 15

Das Stadtbild im westukrainischen Lemberg prägen das Gelb-blau der ukrainischen Nationalflagge und die rot-schwarze Fahne der ukrainischen Untergrundarmee, die während des Zweiten Weltkriegs teilweise auf der Seite der Deutschen gegen die Rote Armee kämpfte. "Ruhm den Helden!" lautet der Text auf diesem Plakat, das den Kiewer Maidan im Februar 2014 zeigt - wer es dort platziert hat, weiß der Fotograf Eric Gourlan, der das Bild gemacht hat, nicht.

Hellbeck Ukraine-Projekt 11

Quelle: oH / Wolodymyr Titzkij

12 / 15

Für den 9. Mai hat die Lemberg scharfe Sicherheitsmaßnahmen angeordnet. Das Tragen von Georgsbändern oder roten Flaggen ist untersagt. Verboten wird aber auch eine rechtsextremistische Demonstration, die zur "Vernichtung der Kartoffelkäfer", also der Anhänger der prorussischen Bewegung, aufruft.

Unter dem Schutz von örtlichen Milizionären geht ein Veteran zum Lemberger Ruhmeshügel. Dort liegen ukrainische Freiheitskämpfer aus dem Ersten Weltkrieg neben sowjetischen Rotarmisten begraben, die bei der Befreiung von Lemberg 1944 fielen. Am Gedenkort kam es in der Vergangenheit zu Ausschreitungen zwischen Anhängern beider Lager.

Hellbeck Ukraine-Projekt 12

Quelle: oH / Wolodymyr Titzkij

13 / 15

In diesem Jahr ist die Stimmung am Ruhmeshügel ruhig. Die meisten der paar Dutzend Anwesenden sind Milizionäre und Angehörige der städtischen Selbstverteidigung. Viele Lemberger sind der Aufforderung der Stadtverwaltung gefolgt, zu Hause zu bleiben.

Hellbeck Ukraine-Projekt 21

Quelle: oH / Katerina Gornostaj

14 / 15

In Kiew versucht sich die vom Maidan ins Amt gehobene Übergangsregierung einer ganz neuen Deutung des Gedenktags: Anstelle der Helden des sowjetischen "Großen Vaterländischen Kriegs" (1941-1945) will sie aller Opfer des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) gedenken - einschließlich der Ukrainer, die auf der Seite der Deutschen gegen die Sowjetunion kämpften.

Am Abend des 8. Mai erinnert das Kulturministerium vor geladenen Gästen im Park des Ruhmes, einer Gedenkstätte, an die "erste Friedensminute in Europa". Die Veranstaltung wird von einem "Selbstverteidigungstrupp" des Maidan beschützt. Die traditionelle Militärparade in Kiew am 9. Mai sagt die Regierung aus Furcht vor Anschlägen hingegen ab.

Hellbeck Ukraine-Projekt 19

Quelle: oH / Katerina Gornostaj

15 / 15

Der 9. Mai in der Ukraine verläuft insgesamt friedlicher als befürchtet. Das lässt für die Zukunft des Landes hoffen. Mehr als 150 000 Menschen nutzen den Tag nach offiziellen Angaben für einen Besuch im Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs in Kiew. Fast alle, die den Feierlichkeiten in Odessa, Charkow, Donezk und Kiew beiwohnen, verurteilen jede Form von Extremismus. Fast alle betonen aber auch, wie wichtig ihnen das Gedenken an die Millionen ukrainischen und russischen Opfer des sowjetischen Krieges gegen Hitler-Deutschland sei.

Für dieses gelebte Gedenken, "freudig und mit Tränen in den Augen", wie viele es beschreiben, steht der 9. Mai weiterhin in großen Teilen der Ukraine. Die Zukunft des Landes wird in starkem Maße von seiner komplexen Geschichte und seinen Menschen geprägt. In dieser Geschichte ist der 9. Mai ein wesentliches Kapitel.

© Süddeutsche.de/gal
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: