Nach dem SPD-Parteitag:Die drei entscheidenden Punkte der Koalitionsgespräche

  • SPD-Chef Schulz hat auf dem Parteitag am Sonntag versprochen, nochmal über den Familiennachzug für Flüchtlinge, befristete Arbeitsverträge und die Gesundheitsversorgung zu verhandeln.
  • CSU-Chef Seehofer reagiert darauf äußerst ablehnend, CDU-Chefin Merkel ausweichend.
  • Wie groß der machtpolitische Spielraum in der Union ist, werden die Koalitionsgespräche zeigen.

Von Stefan Braun, Bernd Kastner, Kristiana Ludwig und Henrike Roßbach, Berlin

Horst Seehofer sagte so hart Nein, als sei er wasserscheu und solle von einem Zehn-Meter-Brett springen. Angela Merkel antwortete wie immer, also ausweichend und diplomatisch. Viele andere Politiker der Union lagen mit ihren Kommentaren wie so oft zwischen. Nachverhandlungen beim Familiennachzug für Flüchtlinge, bei befristeten Arbeitsverträgen und in Sachen Gesundheitsversorgung - diese Themen werden in den bald beginnenden Koalitionsverhandlungen über allem schweben.

Obwohl Union und SPD schon in der vergangenen Woche darüber hart gerungen hatten, wollen die Sozialdemokraten genau hier noch einmal nachlegen. SPD-Chef Martin Schulz hat auf dem Parteitag am Sonntag versprochen, in diesen Fragen auf alle Fälle mehr zu erreichen.

Nun sind Versprechen und glasklare Aussagen des Parteivorsitzenden zuletzt viel schneller überholt gewesen als er selbst es für möglich gehalten hätte. Nach dem Parteitag von Bonn wird nun aber die gesamte SPD drauf schauen, ob sich etwas bewegt in den zwischen Union und SPD besonders umkämpften Bereichen. Dass CDU und CSU darauf sensibel reagiert haben, kann kaum verwundern. Ob im Detail trotzdem noch was geht, werden erst die Gespräche zeigen. Zwischen Seehofers "Nein, das ist unvorstellbar" und Merkels "das Sondierungspapier ist der Rahmen" könnte es Spielraum geben.

Der Spielraum in Sachfragen hängt freilich sehr davon ab, wie viel machtpolitischen Spielraum Seehofer und Merkel in ihren eigenen Reihen noch haben. Eine vom Wahlergebnis beflügelte Merkel konnte 2013 große Zugeständnisse machen. Eine von einem viel schlechteren Ergebnis geschwächte und vom Jamaika-Debakel gebeutelte CDU-Vorsitzende hat weniger Möglichkeiten.

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier erklärte, die Kernpunkte der Sondierungsergebnisse werde man sicher nicht noch einmal öffnen. Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner sagte, man werde keine Wände mehr verrücken, weil sonst die Statik in den Vereinbarungen "hinfällig" sei. Um was also geht es? Welche Veränderungen sind noch möglich? Und was scheint ausgeschlossen?

Familiennachzug und Härtefallregelung

Das sind die beiden ersten Stichworte, die die SPD unbedingt noch einmal aufrufen möchte. Eine Härtefallregelung soll Angehörigen von Flüchtlingen, die in Deutschland subsidiären Schutz erhalten haben, den Nachzug ermöglichen. Für diese Gruppe ist er seit März 2016 ausgesetzt, die Union will diese Aussetzung über den kommenden März hinaus verlängern. Allerdings sollen von August an pro Monat 1000 Angehörige aus humanitären Gründen nachziehen dürfen. Die SPD will diese Zahl offenbar erhöhen. Wie die neue, ihr vorschwebende Regelung aussehen soll, ist noch offen.

Eine Härtefallregelung wäre in diesem Bereich keine neue Erfindung. Es gibt sie längst, verankert in Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes. Dieser Paragraf war vor zwei Jahren eines der Argumente, warum die SPD der Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte zustimmte. In der Praxis erweist er sich allerdings als sehr enges Schlupfloch: Von Januar bis Anfang Dezember 2017 wurden auf dieser Grundlage lediglich 66 Visa vergeben. Das geht aus einer Antwort des Auswärtigen Amtes auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor. In 113 weiteren Fällen lief ein Visumverfahren, etwa ebenso viele Fälle sollten im Rahmen einer persönlichen Anhörung geprüft werden.

Der Weg nach Deutschland ist laut Paragraf 22 schmal: Eine Aufenthaltserlaubnis kann "aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen" erteilt werden. Zuständig für die Visavergabe ist das Auswärtige Amt. Lange Zeit interpretierte das Amt die Regelung so, dass der Härtefall bei dem noch im Ausland lebenden Angehörigen gegeben sein müsse: Es müsse eine "besonders gelagerte Notsituation" zu erkennen sein, "die sich von den Lebensumständen im Aufenthaltsland deutlich abhebt"; das sei etwa eine "dringende Gefahr für Leib und Leben". So formulierte es das SPD-geführte Auswärtige Amt noch Anfang Dezember. Die Lage des bereits in Deutschland lebenden Flüchtlings spielte allenfalls eine untergeordnete Rolle, selbst dann, wenn es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen handelte, der auf seine Eltern wartet.

Diese restriktive Haltung wurde Ende des Jahres durch eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin korrigiert. Es sprach einem traumatisierten jugendlichen Syrer das Recht zu, nach zwei Jahren des Wartens seine Eltern und Geschwister nachkommen zu lassen. Das Auswärtige Amt hatte dies noch abgelehnt. Das Gericht aber sah das Kindeswohl in diesem Fall gefährdet, weil der Jugendliche psychisch enorm unter der Trennung von seiner Familie leide. Dabei beruft sich das Gericht auf die völkerrechtliche Komponente in Paragraf 22: Die UN-Kinderrechtskonvention gebiete es, auch die Situation des in Deutschland lebenden Flüchtlings zu beachten.

Zunächst wollte das Auswärtige Amt das Urteil nicht akzeptieren und hatte Berufung dagegen eingelegt. Dann aber entschied Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) persönlich, die juristische Niederlage zu akzeptieren. Ihm war offenbar klar geworden, dass sein Amt nicht restriktiv handeln und er als SPD-Politiker zugleich für einen verbesserten Familiennachzug kämpfen kann. Das Urteil hat für viele wartenden Angehörigen Bedeutung: Das Verwaltungsgericht Berlin ist für Visa-Verfahren zuständig, weil das Auswärtige Amt in Berlin seinen Sitz hat.

Doch selbst wenn diese Hürde nun kleiner werden sollte - es bleiben andere, die es allen Angehörigen schwer macht, ein Visum für Deutschland zu beantragen. Die meisten subsidiär Geschützten sind Syrer. Sie müssen den Visumantrag in einer deutschen Auslandsvertretung stellen. In Damaskus gibt es schon lange keine deutsche Botschaft mehr. Die in den umliegenden Ländern haben mitunter sehr lange Wartezeiten. In Beirut beträgt sie zwölf Monate, dort standen Ende 2017 mehr als 42.000 Menschen auf der Liste.

Wie also eine Erweiterung der Härtefallregelung aussehen könnte, ist bislang unklar. Und noch unklarer ist, wie die CSU an dieser Stelle über die gewährten 1000 Familiennachzieher pro Monat hinausgehen könnte. Kein anderes Thema ist für die Partei so aufgeladen wie dieses. Deshalb scheint die Bereitschaft der Union in dieser Frage äußerst gering zu sein. Jedenfalls solange sie ihre Rhetorik nicht hin zu einer christlichen Perspektive auf die ganze Frage verändert.

Sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen

Auch dieses Thema will die SPD noch einmal in den Fokus rücken, vor allem der kritische Landesverband Nordrhein-Westfalen.

Die Ausgangslage: 2016 hatten hierzulande 8,5 Prozent der Beschäftigten einen befristeten Arbeitsvertrag. Zehn Jahre zuvor war der Anteil mit 5,9 Prozent noch niedriger gewesen. Allerdings weisen die Experten des Statistischen Bundesamts darauf hin, dass der Zuwachs "wegen methodischer Änderungen" etwas überzeichnet werde. So oder so liegt Deutschland nach diesen Berechnungen weiterhin unter dem europäischen Durchschnitt von 11,3 Prozent. Viele, die einen befristeten Arbeitsvertrag haben, sind damit durchaus zufrieden. Gut ein Drittel der Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen, nämlich 36,5 Prozent, wären den Statistikern nach lieber unbefristet angestellt. Außerdem taugen nicht alle befristeten Verträge zum politischen Streit. Dass eine Elternzeitvertretung zeitlich befristet ist, leuchtet jedem ein. Auch Ausbildung und Probezeit sind befristete Vertragsverhältnisse.

Die sogenannte sachgrundlose Befristung dagegen ist ein Dauerbrenner in der politischen Auseinandersetzung und der SPD schon lange ein Dorn im Auge. CDU und CSU dagegen verweisen auf das Sondierungspapier - in dem sich keinerlei Hinweis darauf findet, dass eine Abschaffung in dieser Legislaturperiode geplant sei. Auch im Wahlprogramm der Union war lediglich davon die Rede gewesen, den Missbrauch dieses arbeitsrechtlichen Instruments bekämpfen zu wollen, nicht aber die Regelung an sich.

Die Grundlage für Arbeitsverträge auf Zeit liefert das Teilzeit- und Befristungsgesetz. Erlaubt sind Befristungen, wenn es einen sachlichen Grund dafür gibt, wie eine Vertretungssituation. Ohne einen solchen Sachgrund dürfen Arbeitsverträge dagegen auf höchstens zwei Jahre befristet werden - und zwar nur, wenn das Unternehmen noch nie zuvor einen Arbeitsvertrag mit dem Betroffenen geschlossen hatte. Kürzere Verträge (mehr als die Hälfte der befristet Beschäftigten hat einen Arbeitsvertrag für weniger als ein Jahr) können auch mehrmals verlängert werden, insgesamt aber höchsten dreimal, und auch dann dürfen die zwei Jahre in der Summe nicht überschritten werden.

Nach Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört, lag der Anteil der sachgrundlos befristeten Arbeitsverträge an allen befristeten Arbeitsverträgen 2013 bei 48 Prozent. Neuere Zahlen gibt es nicht.

Keine Regel ohne Ausnahme gilt allerdings auch für die Grenzen der sachgrundlosen Befristung. In neu gegründeten Firmen sind vier Jahre Befristung möglich, für ältere Arbeitnehmer, die vorher arbeitslos waren, sind bis zu fünf Jahre zulässig. Auch tarifliche Regelungen, die eine längere Befristung ermöglichen, sind erlaubt, allerdings in Grenzen. Und Sonderregelungen gibt es vor allem im Bereich von Wissenschaft und Forschung, wo besonders viele Arbeitnehmer befristet angestellt sind. Dort gilt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das Befristungen für bis zu sechs Jahre erlaubt, wenn beispielsweise eine bestimmte Stelle durch zeitlich begrenzte Drittmittel finanziert wird oder wenn es um eine Promotion oder Habilitation geht.

Genau auf diesen Bereich des Arbeitsmarktes, auf Forschung und Wissenschaft, verweisen die Arbeitgeber im Streit um die sachgrundlose Befristung. Vergangene Woche erst kritisierte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer, die Wirtschaft dürfe derzeit nicht so argumentieren wie die öffentliche Hand im Wissenschaftssektor - dass also ein Auftrag nur eine bestimmte Zeitspanne abdecke und deshalb auch das damit betraute Personal nur für diese Zeitspanne eingestellt werden könne; analog zur befristeten, weil drittmittelfinanzierten Forscherstelle. Wegen dieser Ungleichbehandlung brauche die Wirtschaft eben die sachgrundlose Befristung.

Die Gegner des Status quo dagegen argumentieren, befristete Arbeitsverträge seien für junge Berufseinsteiger ein großes Hindernis auf dem Weg zur Gründung einer Familie. Wer setzt schon Kinder in die Welt, wenn er nicht weiß, wo, wie und ob er in einem oder zwei Jahren arbeitet?

Im SPD-Parteitagsbeschluss vom Sonntag heißt es denn auch, die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung sei eine geeignete Maßnahme, "um insbesondere für junge Menschen für mehr Sicherheit beim Start ins Berufsleben zu sorgen und sie damit in der Phase der Familiengründung zu unterstützen". Dieser Meinung aber waren die Sozialdemokraten auch schon in der vergangenen Legislaturperiode. Ohne Erfolg.

Zwei-Klassen-Medizin

Das dritte große Thema für Nachverhandlungen ist die Gesundheitsversorgung. Sie ist schon fast traditionell ein Konfliktfeld zwischen Union und Sozialdemokraten. Vor Beginn der Sondierungsgespräche mit der Union hatte die SPD eine Bürgerversicherung gefordert, also eine Abschaffung des zweigeteilten Systems aus privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen. Doch im Abschlusspapier konnten die Sozialdemokraten dazu nichts unterbringen. Mit den Koalitionsverhandlungen wollen sie nun doch noch "das Ende der Zwei-Klassen-Medizin einleiten", steht im SPD-Leitantrag vom Sonntag.

Im Zentrum der neuen Gesundheitspolitik soll eine "gerechtere Honorarordnung" für Ärzte stehen. Bislang bezahlen die gesetzlichen Kassen für die Untersuchung von Patienten weniger als die Privatversicherungen. Die Ärzte rechnen nach zwei verschiedenen Gebührentabellen ab. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach will die Honorare deshalb vereinheitlichen, damit es für Ärzte keinen Anreiz mehr gibt, Patienten unterschiedlich zu behandeln. Außerdem sollen Mediziner auf dem Land profitieren und auch solche, die sich Zeit für ihre Patienten nehmen.

Doch der Plan hat Tücken: Wenn die deutschen Ärzte am Ende im Schnitt noch genauso viel verdienen sollen wie heute, müssten sowohl die Preise für Privatpatienten sinken als auch die Honorare für Kassenpatienten steigen. So eine Reform könnte allerdings für die Beitragszahler der Krankenkassen teuer werden - und für die privaten Versicherungsunternehmen ein Sparprogramm. Die Abschaffung einer alten Ungerechtigkeit würde also eine neue erzeugen.

Eine solche Entwicklung ließe sich abmildern, wenn man die ganze Krankenkassensystematik ändern würde, zum Beispiel durch einen neuen Finanzausgleich oder einen Fonds. Doch im Konzept der SPD steht dazu wenig. Auch deshalb stößt sie hier bislang auf massiven Widerstand in der Union.

Ähnlich verhält es sich mit der Forderung der SPD-Delegierten, die gesetzlichen Kassen für Beamte zu öffnen. Zwar würde diese Möglichkeit vor allem alten und chronisch kranken Privatversicherten sehr helfen. Doch die Koalition müsste auch einen Weg finden, wie Beamte ihre angesparten Altersrückstellungen aus der Privatversicherung in die gesetzlichen Kassen einspeisen können. Sonst würden die Beamten die Gemeinschaft der Versicherten belasten, ohne je etwas beigetragen zu haben. Doch ob Privatversicherte ihre Altersrückstellungen ohne Weiteres mitnehmen können, ist stark umstritten. Selbst die SPD räumt ein, dass dies "im Zweifelsfall vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden" muss. In der Bürgerversicherung, die den Sozialdemokraten vorschwebt, sei die Übertragung der Altersrückstellung aber "auch nicht zwingend vorgesehen". Wie die Partei diese Systemfragen stattdessen beantworten will, bleibt jedoch in ihrem aktuellen Konzept einer Bürgerversicherung vage.

Und deshalb bleibt trotz großer Worte auf dem Parteitag unklar, was wie mit der Union ausgehandelt werden könnte.

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