SZ-Serie "Schaffen wir das?", Folge 4:Der Schlüssel für Deutschland

SZ-Serie "Schaffen wir das?", Folge 4: Integration SZ-Serie Schaffen wir das?

Integration SZ-Serie Schaffen wir das?

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Flüchtlinge, die in Deutschland bleiben dürfen, müssen einen Integrationskurs besuchen. Am anschließenden Sprachtest aber scheitern viele. Woran liegt das? Eine Erkundung.

Von Hannah Beitzer

Es gibt im Leben einer Sprachlehrerin schöne Momente. Wenn sie zum Beispiel mit dem ganzen Kurs auf den Markt geht und danach mit ihren Schülern kocht. Und es gibt die schwierigen Momente, erzählt Lena Kettler, die in Berlin Integrationskurse für Flüchtlinge unterrichtet hat: Wenn im Lehrbuch das Thema Wohnen dran ist und die Teilnehmer ihre Wohnung beschreiben sollen. "Dabei weiß ich, dass sie ihr Zuhause verloren haben, in einer Flüchtlingsunterkunft leben." Für die Geflüchteten ist Wohnen kein lockeres Plauderthema, sondern im schlimmsten Fall eines, das ein Trauma aufbricht.

Auf Menschen wie Lena Kettler ruhen in Deutschland große Erwartungen. So viel sich auch geändert hat seit Angela Merkels Satz vom "Wir schaffen das" im Sommer 2015, immer heißt es: Sprache ist der Schlüssel zur Integration. An Kursen, die Geflüchteten diesen Schlüssel in die Hand geben sollen, mangelt es nicht. Sie reichen von ehrenamtlich organisierten Sprachcafés bis hin zu den offiziellen Integrationskursen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) für jene Geflüchteten, die eine gute Bleibeperspektive haben.

Integration in Deutschland

Dieser Text ist Teil der SZ-Integrationsserie "Schaffen wir das?". Alle Folgen der Serie finden Sie hier.

Die Kurse umfassen 600 Stunden Sprachunterricht und 100 Stunden "Orientierung", also deutsche Rechtsordnung, Geschichte, Kultur und Werte. Am Ende steht ein Sprachtest. Am Erfolg dieser Kurse jedoch gibt es Zweifel. Nicht einmal die Hälfte der Teilnehmer, die es bis zum Abschlusstest schaffen, erreicht das angestrebte Sprachniveau B1, das als Grundlage für einfache Jobs gilt. Woran liegt das? Und was bedeutet das für das große Projekt Integration?

Der Volkshochschul-Direktor:

"Die Erwartungen an die Kurse ändern sich mit der politischen Lage."

In der Volkshochschule Berlin Mitte lernen pro Jahr 8000 Menschen Deutsch in verschiedenen Kursen, allein 60 vom Bamf finanzierte Integrationskurse laufen parallel. Direktor Michael Weiß sagt: "Die Erwartungen an die Kurse ändern sich mit der politischen Lage." Immer aber seien diese Erwartungen hoch.

2015 war die Devise: möglichst alle unterbringen in Kursen. Das gelang, wenngleich mancherorts die Qualität litt. Es tauchten neue Träger auf, sogar Fahrschulen boten Unterricht an. Lehrer waren knapp, wurden hastig ausgebildet. Lehrer, die bisher vor allem Akademiker aus Südeuropa unterrichtet hatten, trafen nun auf eine neue, heterogene Schülerschaft. Syrische Linguisten waren ebenso dabei wie Menschen, die noch nie eine Schule besucht hatten.

"Nach der Silvesternacht in Köln gab es zusätzlich die Erwartung, dass die Kurse unsere Werte vermitteln sollen", sagt Weiß. Dabei seien sich die Deutschen ja selbst nicht einig, was ihre Werte sind. Und das Kursmaterial sei keine große Hilfe, da es oft nicht der Realität entspreche. "Jemand, der Mustafa heißt, ist in den Lehrbüchern nie ein Deutscher." Dabei gibt es natürlich längst deutsche Mustafas. "Die diverse Gesellschaft wäre ein guter Anknüpfungspunkt für Integration", sagt Weiß. "Stattdessen kreist die Wertedebatte oft darum, was man hier darf und was nicht."

Es folgte jene Phase, in der aus dem hoffnungsfrohen "Wir schaffen das" ein banges "Schaffen wir das?" geworden war. Berichte über Kurse von mangelhafter Qualität machten die Runde, das Bamf kontrollierte die Angebote nun genauer. Verständlich, findet Michael Weiß: "Auf der anderen Seite bedeutete das für unsere Lehrkräfte: Sie arbeiten unter großem Druck und in einem sehr engen Korsett von Vorschriften."

Die Lehrerin:

"Viele meiner Schüler hatten kaum Kontakt zu Deutschen."

Lena Kettler hat 2016 Integrationskurse unterrichtet, danach Dozenten für die Kurse fortgebildet. Eigentlich heißt sie anders, aber sie will offen sprechen: "Viele Lehrer trauen sich kaum, vom Lehrbuch abzuweichen, arbeiten Kapitel für Kapitel ab." Sie aber ist überzeugt: Ein Ausflug zum Markt könnte manchmal mehr bringen, allein, weil die Schüler dann im Alltag die Sprache ausprobieren. "Viele meiner Schüler hatten kaum Kontakt zu Deutschen."

Aber natürlich habe es einen Grund, warum sich viele Dozenten solche Angebote lieber sparen. Denn am Ende des Kurses steht der Abschlusstest - und der passe nicht immer zum Alltag. Im schriftlichen Teil heißt es etwa: Deine Lehrerin lädt dich zu einer Party ein. Schreibe ihr einen Brief, bedanke dich und frage nach dem Weg. "In der Realität wären sie in einer Whatsapp-Gruppe, die Lehrerin hätte die Wegbeschreibung per Google Maps geschickt", sagt Kettler.

Zwei kritische Wissenschaftler - und eine Geflüchtete mit guten Integrationsschancen

Der Sprachwissenschaftler:

"Integration ist der Schlüssel zur Sprache."

Besonders schwer tun sich mit den schriftlichen Tests Menschen, die erst in Deutschland Lesen und Schreiben gelernt haben, berichtet der Sprachwissenschaftler Christoph Schroeder von der Universität Potsdam. "Es geht dabei nicht nur um das reine Beherrschen der Schrift." Sondern um das Zurechtfinden in einer anderen Erfahrungswelt. "Für die meisten von uns ist es normal, durch Schrift Welten entstehen zu lassen und uns in ihnen zu bewegen.

Für Menschen, die nie einen Stift gehalten haben, ist es das nicht." Das zeige sich zum Beispiel an folgender Fragestellung: Bananen wachsen, wo es heiß ist. In England ist es kühl. Wachsen dort Bananen? "Wer sich selbstverständlich in der Schriftlichkeit bewegt, für den ist Antwort klar: Es wachsen keine", sagt Schroeder. Und zwar egal, ob man etwas über England weiß.

Anders bei Menschen, die keinen Zugang zu Schriftlichkeit haben: "Da besteht eine größere Wahrscheinlichkeit, dass sie sagen: Weiß ich nicht, ich war noch nie in England." Auf dieses Publikum seien die Sprachkurse nicht ausreichend eingestellt.

In den vergangenen Jahren hat er über diese Probleme oft gesprochen - und weiß, dass er damit Teil einer Erzählung wird, die lautet: Wir schaffen das nicht. Dabei findet er, dass die Ansprüche an die Sprachkurse verdreht sind. "Es heißt immer: Sprache ist der Schlüssel zur Integration", sagt er. "Dabei müsste es eigentlich heißen: Integration ist der Schlüssel zur Sprache." Wer im Alltag, in der Arbeit, beim Ausgehen, die Gelegenheit habe, eine Sprache zu benutzen, in das fremde System hinein zu finden, könne sie erfolgreich lernen.

Der Migrationsforscher:

"Die Menschen müssen wissen, was ihnen der Kurs bringt."

Jochen Oltmer, Migrationsforscher an der Uni Osnabrück, sieht das genauso: "Integration ist Vernetzung zwischen denen, die kommen und denen, die schon da sind." So wichtig Sprache auch sei - ein Kurs mit 600 Stunden Sprache sei noch keine Vernetzung, weil das Gegenüber fehle. Das lässt sich auf die 100 Einheiten Landeskunde übertragen: Den Grundsatz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" zu hören ist etwas anderes, als im Austausch mit anderen zu erleben, was er bedeutet. Nach einem Integrationskurs ist man nicht automatisch schon integriert. Deutschland lässt sich am besten im Alltag lernen.

Statt auf eine aufnahmebereite Gesellschaft treffen die Migranten im Unterricht auf konstruierte Lernsituationen und formalisierte Tests. Warum diese wichtig sind, sei nicht jedem klar: "Menschen müssen wissen, was ihnen ein Kurs im Alltag bringt." Oltmer nennt als Beispiel die Gastarbeiter der 60er und 70er Jahre: "Damals ist vieles falsch gelaufen." Aber aus einigen guten Erfahrungen lasse sich lernen. So hätten Betriebe Gastarbeitern Sprachkurse angeboten, damit die in der Hierarchie aufstiegen. Klare Ansprüche, klare Ziele - und ein Austausch beider Seiten.

Die Geflüchtete:

"Ich habe viele deutsche Freunde in der Kirchengemeinde gefunden."

So wichtig die Kurse auch sind, entscheidend für die Integration ist das echte Leben. In der Kleiderkammer von "Moabit hilft", einer Berliner Flüchtlingsorganisation, führt Maryam aus Iran die Besucher durch die Räume. Die junge Frau, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, spricht in einem akzentuierten, flüssigen Deutsch: "Einfach hier durchgehen, bitte." Ihr Integrationskurs hat gerade erst begonnen - obwohl sie schon 2015 nach Deutschland kam. Damals war sie aber gerade schwanger mit ihrem zweiten Kind. Nach der Geburt besuchte sie einen Alphabetisierungs- und einen Sprachkurs. Sie war in Iran zwar neun Jahre in der Schule, musste aber erst einmal die lateinische Schrift lernen. Zum Sprachzertifikat B1 fehlen ihr noch einige Schritte. Warum spricht sie trotzdem so gut Deutsch? "Ich bin Christin und habe viele deutsche Freunde in der Kirchengemeinde gefunden", sagt sie. "Schriftlich bin ich noch nicht ganz so gut."

Sie hat ein Ziel vor Augen: "In Iran war ich Hausfrau. Aber hier will ich Krankenschwester werden. Oder Apothekerin." Beides Berufe, für die das Niveau B1 nicht ausreicht. Maryam hat also noch einige Kurse vor sich. Glaubt man den Experten, dann sind die Weichen für ihre gelingende Integration dennoch gestellt - ganz ohne Zertifikat. Weil sie nämlich ein Ziel vor Augen hat. Und weil sie sich angekommen fühlt, in ihrer Gemeinde, in ihrer ehrenamtlichen Arbeit. Weil sie das, was sie im Sprachkurs lernen wird, gleich im Alltag benutzen kann. Und vieles, was sie im Orientierungskurs hören wird, schon aus dem ganz normalen deutschen Leben kennt.

Zur SZ-Startseite
  • Merkel hat vor drei Jahren gesagt: "Wir schaffen das!" Was ist aus den Flüchtlingen geworden, die seit 2015 geblieben sind? In der Serie "Schaffen wir das?" gibt die SZ jede Woche Antworten.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: