Für Samer Tannous war Integration immer auch eine Frage der Ehre. Er ist ein bedächtiger Mann, 48 Jahre alt, Syrer. Ehe er mit Frau und zwei Töchtern flüchtete, war er Französischlehrer an der Universität von Damaskus und lebte in einem Haus mit Garten.
Als er Anfang 2016 in Deutschland ankam, wollte er dem Staat nicht zur Last fallen. Er wohnte zunächst bei seinem Bruder, der Zahnarzt in Rotenburg an der Wümme ist, lernte binnen drei Monaten Deutsch, ließ sich auf die neue Welt ein, sortierte seine Chancen.
Heute arbeitet Tannous an zwei Schulen als Französischlehrer. Es reicht knapp für die Familie, Hartz IV hat er nie beantragt. Er ist als Flüchtling anerkannt, aber längst auch ein Flüchtlingshelfer. Zusammen mit Gerd Hachmöller, der die Kreisentwicklung im Landkreis Rotenburg verantwortet, gibt er Workshops und schreibt Zeitungskolumnen. "Gelungene Integration ist vielleicht ein bisschen so, wie ich es mache", sagt er und lächelt. Aber ist einer wie Samer Tannous wirklich der Maßstab? "Er ist das eine Prozent", sagt Hachmöller, "das positive Extrem."
Integration ist ein ständiger Prozess. Wer ihn verstehen will, darf sich nicht am Einzelfall orientieren. Leute wie Tannous lassen Integration so leicht aussehen. Die Negativbeispiele wiederum missbrauchen Populisten als Zeichen für die angebliche Gefahr des Fremden. Die Extreme führen in die Irre. Ob Integration gelingt, zeigt sich an etwas anderem: an einer Atmosphäre der Möglichkeiten, die Ankommende und Aufnehmende gemeinsam schaffen.
"Die dezentrale Unterbringung ist der Schlüssel"
Aber diese Atmosphäre ist keineswegs einheitlich. Sie ist auf dem Land anders als in der Stadt - und dort teilweise anders als gedacht. "Man kann Integration nicht pauschal beurteilen", sagt Jochen Oltmer, Integrationsforscher an der Uni Osnabrück, und stellt ein Fremdwort in den Raum, das ausdrücken soll, wie verwoben die unterschiedlichen Erwartungen, Wahrnehmungen und Ansprüche bei dem Thema sind. Das Wort lautet: "Komplexität." Die Provinz eine abweisende Wüste voller Heimatbewahrer? Die Stadt ein weltoffenes Willkommenszentrum? So einfach ist es nicht, wie auch Besuche in Rotenburg und Hamburg zeigen.
Gerd Hachmöller könnte jubeln über die Integration im Landkreis, für den er arbeitet. Rotenburg am Fluss Wümme ist ein weitläufiges, dünn besiedeltes Stück Deutschland in der Mitte Niedersachsens. 2015 hat man hier binnen 48 Stunden 500 Geflüchtete untergebracht, und seither ist es gut weitergegangen. Keine rechtsradikalen Ausbrüche, kein Anstieg der Ausländerkriminalität. "Klar, bei uns läuft es ganz gut", sagt Hachmöller. Aber er jubelt nicht. Er will nicht den Eindruck erwecken, als funktioniere in Rotenburg alles reibungslos oder viel besser als in anderen Kreisen.
In Hachmöllers Büro steht noch die Tafel von der letzten Sitzung mit den Vertretern der Gemeinden. Darauf sind in Schlagworten die Probleme des Alltags notiert: Wohnung. Arbeit. Psychologische Betreuung. Man könnte meinen, der Landkreis sei in Integrationsnot, weil Einzelne ihre Unterkunft vermüllen, schwer zu vermitteln sind oder seelisch gebrochen wirken. Aber die Tafel zeigt nur einen Ausschnitt. "Wenige Menschen machen Probleme, über die man viel spricht", sagt Hachmöller. "Die 90 Prozent, die gut durchlaufen, merkt man gar nicht."
Mit Glück und viel Zusammenhalt bewältigte der Landkreis vor drei Jahren die Herausforderung. Die Kaserne in Visselhövede stand leer und als Notunterkunft zur Verfügung, viele packten an, niemand machte größeren Ärger. Bald verteilte der Landkreis die Geflüchteten auf die Gemeinden, welche die Neuankömmlinge wiederum dezentral unterbrachten, also in einzelnen Wohnungen.
In den Orten kümmert sich mal eine Gruppe von Ehrenamtlichen um die Flüchtlinge, wie in Sittensen, wo der Verein EWIS (Eine Welt in Sittensen) mit Gemeinde, Kirchen und Sportverein die Kräfte bündelt. Mal eine engagierte Einzelperson. Mal in erster Linie die hauptamtliche Verwaltung. Aber eines ist überall in Rotenburg gleich: Es gibt keine Milieus, in die sich die Geflüchteten zurückziehen und unter sich bleiben könnten.
"Die dezentrale Unterbringung ist der Schlüssel", sagt Hachmöller. "Wenn ein Iraker hier in ein Dorf kommt, hat er zehn deutsche Nachbarn." Die Geflüchteten könnten der deutschen Kultur nicht entkommen. Die meisten von ihnen machten sich auf den beschwerlichen Weg Richtung Arbeitsmarkt. Belegten die Sprachkurse, die der Landkreis teilweise mit Eigenmitteln förderte, begannen eine Ausbildung.
Wer sich durchbeißt, hat gute Perspektiven. Der Fachkräftemangel ist groß in Rotenburg. "Es gibt ein weites Feld von Einsatzmöglichkeiten", sagt Hachmöller. Ist das schon gelungene Integration? Hachmöller ist nicht sicher. "In zwei, drei Jahren kann man das besser sagen." Dann ist klar, wie viele ihre Ausbildung durchgezogen haben und wie bereitwillig die Betriebe sie tatsächlich anstellen.
"Integration macht Arbeit", sagt Sieghard Wilm an einem Ort, der ganz anders ist als Rotenburg. St. Pauli, Hamburgs dicht bebaute Herzkammer der Vielfalt. Wilm ist Pastor der St. Pauli Kirche, die am Pinnasberg über dem Hafen aufragt. Einen Vorgeschmack auf die vielen Flüchtlinge von 2015 bekam Wilm zwei Jahre zuvor, als etwa 300 Afrikaner, die als Gastarbeiter in Libyen gelebt hatten, über Italien nach Hamburg gekommen waren. Die sogenannten Lampedusa-Flüchtlinge fanden ein halbes Jahr Obhut in der St. Pauli Kirche, was Wilm viel Sympathie einbrachte - aber auch den Hass von Rechtspopulisten.
Wilm könnte viele Geschichten von gescheiterter Integration erzählen. Und noch mehr von gelungener Integration. Aber ihn interessiert etwas anderes: der Blick auf das große Ganze. Auf die vielen Milieus in Deutschland, die der Ankommenden und die der Aufnehmenden, die zu selten zueinanderfinden. "Warum gibt es so wenig Neugier aufeinander?", fragt er sich. "Vermutlich ziehen sich alle zurück, weil alle eine Sehnsucht nach dem Vertrauten haben."
Gerade in der Metropole Hamburg, die sich für offen und weltläufig hält, kommt es ihm so vor, als wüchsen unsichtbare Mauern zwischen den Kulturen, während der Staat mit seinen starren Gesetzen hilflos zusieht. Da sind die Deutschen, die ihren Glauben und ihre Identität allmählich an eine globalisierte Konsumwelt verlieren. Dort jene, die in der Fremde erst recht zu Landsleuten und Gleichgläubigen streben. "Es entmischt sich", sagt Wilm, "das betrifft alle Einwanderergenerationen. An bestimmten Ecken in Hamburg treffen Sie nur Türken - und in Blankenese gar keine mehr, das ist alles Goldköpfchenland." Ein Quartier mit blonder Mehrheit.
Die Stadt ist so groß und bevölkert, dass es leicht ist, sich im eigenen Milieu vor dem Verständnis für die anderen zu drücken. Sportvereine, freie Hilfeangebote und Kirchen versuchen gegenzusteuern. Trotzdem fragt Wilm: "Wo sind die Orte, an denen man sich verabredet?" Integration heißt doch nicht nur, für andere Chancen zu schaffen. Sondern auch, mit anderen über gemeinsame Werte zu sprechen.
Es klingelt. Wilm öffnet. Es ist Yakup aus Mali. Die Polizei hat ihm seine Papiere abgenommen, er hofft auf Hilfe vom Pastor. Seinen Nachnamen sagt Yakup nicht. Er kam 2013 aus Libyen, wo er Arbeit hatte, bis der Bürgerkrieg seine Welt zerstörte. In Italien ist er als Flüchtling anerkannt, aber dort fand er keine Arbeit. Er versuchte in Deutschland sein Glück, vergeblich: "Sie geben dir keine Arbeitserlaubnis." Zehntausende Pfandflaschen hat Yakup in den vergangenen Jahren gesammelt. Das Geld müsste reichen, um sich in Ghana, wo seine Familie lebt, eine Existenz aufzubauen. Und das muss er auch, die Ausweisung steht bevor. "Das ist ein Beispiel von Nichtintegration", sagt Wilm, "diese Gesellschaft gibt ihm keine Chance."
Yakup und der Syrer Tannous. Zwei Integrationsgeschichten, zwei sehr unterschiedliche Verläufe. Samer Tannous in Rotenburg sagt: "Die meisten Deutschen waren nett zu mir." Yakup in Hamburg sagt: "Das ist kein Leben hier."