SZ-Serie: Der Weg nach Berlin:Kondome, Traubenzucker und FDP-Flyer

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"Macht Eucht frei" lautet der Slogan des FDP-Wagens beim Stuttgarter Christopher Street Day. Auch Judith Skudelny nimmt an der Parade teil - allerdings wenig frivol mit blau lackierten Fingernägeln zu gelbem Shirt. Die Bundestagsabgeordnete verteilt Kondome - und bringt zugleich Wahlinfos unters Partyvolk.

Von Roman Deininger, Stuttgart

Politiker "sind doch alle gleich", lautet das Pauschalurteil vieler Deutscher. Sind sie nicht. Die Süddeutsche Zeitung begleitet bis zur Bundestagswahl 2013 sieben Menschen aus sieben Parteien auf ihrem Weg in die Politik - Fehler, Rückschläge und Niederlagen inklusive.

"Küss die Hand", sagt der junge Mann in den schwarzen Netzstrümpfen und der Lederkorsage, das freut Judith Skudelny natürlich, auch wenn sie nicht gleich weiß, dass sie da gerade vom baden-württembergischen Landesvorsitzenden der Piratenpartei begrüßt wird. "Alle wieder mit dabei", sagt Skudelny, drei Sekunden bevor ihr Stefan Kaufmann um den Hals fällt, ihr CDU-Konkurrent im Wahlkreis Stuttgart I.

Alle haben einen eigenen Wagen bei der Parade des schwäbischen Christopher Street Day: Skudelnys FDP (Slogan: "Macht Euch frei"), die CDU ("Muttis GAYle Truppe"), die SPD ("100 % willig"), die Grünen ("It's okay to marry gay"), die Linke ("Liebe ist für alle da"), die Piraten ("Queer denken"). Die DKP hat immerhin einen ernst guckenden Herrn mit Fahne.

Vor knapp zehn Jahren hatte sich der aufstrebende Christdemokrat Stefan Mappus noch über das "frivole, karnevaleske Zurschaustellen sexueller Neigungen" empört; jetzt hat die grün-rote Landesregierung zur Feier des Schwulen- und Lesben-Festtages die Regenbogenfahne auf dem Neuen Schloss gehisst. Für die Stuttgarter Bundestagskandidaten ist der Christopher Street Day am Samstag ein Pflichttermin wie das Sommerfest des Kleintierzüchtervereins Möhringen am Sonntag. Und womöglich sogar bessere Unterhaltung.

Top auf der Walter-Scheel-Skala für Textsicherheit

Auf der Mappus-Skala für frivole Kostümierung bleibt Judith Skudelny, 37, allerdings weit hinter dem Piratenkollegen zurück: blau lackierte Fingernägel zu gelbem Shirt. Dafür liegt sie auf der Walter-Scheel-Skala für Textsicherheit bei Volksliedern um Längen vor ihren Mitfahrern von den Jungen Liberalen: Sie kann "Hoch auf dem gelben Wagen" auswendig, was umso wichtiger wird, als die freidemokratische Musikanlage vor der Hitze kapituliert.

Der Kreisvorsitzende schwört derweil seine gut zwanzigköpfige Mannschaft ein: "Jetzt noch was Technisches: Wir haben 11.000 Kondome hier oben", die dürften nicht alle schon auf halber Strecke weg sein wie vergangenes Jahr. Neben Kondomen stehen auch Traubenzucker-Würfel und FDP-Flyer als Wurfmaterial zur Verfügung. Skudelny ist auf einen Tisch gestiegen und beugt sich runter zur Menge am Straßenrand: "Kommt, nehmt auch was zum Lesen!"

Als der gelbe Wagen die Innenstadt erreicht, skandieren ein paar Stuttgart-21-Gegner halbherzig "Lügenpack". Sonst stellt sich Unzufriedenheit mit der FDP beim Publikum höchstens ein, wenn die Kondome mal wieder arg rationiert ausgegeben werden. "Du hast doch schon zwei", ruft Skudelny. "Und du bist zu jung", ruft der Kreisvorsitzende.

Erste Mitglieder der Wagenbesatzung essen den Traubenzucker selbst, um die Parade bei 35 Grad durchzustehen. Kurz vor Schluss kommt plötzlich die Befürchtung auf, man könnte zu sehr mit den Kondomen gehaushaltet haben und auf ihnen sitzen bleiben. Als ein Zuschauer mit vorgehaltener Wasserpistole die Herausgabe eines Halbjahresvorrats an Präservativen erzwingt, ist die FDP diese Sorge aber los.

Am Ziel sagt der Kreisvorsitzende: "Keiner geht hier runter, bevor wir aufgeräumt haben!" Sie fürchte, sagt Judith Skudelny, das schließe Bundestagabgeordnete wohl mit ein.

© SZ vom 29.07.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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