SZ-Reporter berichtet aus Aleppo:Befreite Gebiete und die Schlachtfelder von morgen

Aleppo ist Schauplatz der entscheidenden Schlacht in Syrien. Doch was passiert dort wirklich? Brennt die ganze Stadt? SZ-Reporter Tomas Avenarius konnte vor Ort recherchieren und berichtet von ständigen Kämpfen, verängstigten Menschen - aber auch von Leuten die seelenruhig vor Lokalen sitzen. Ein Gespräch.

Tomas Avenarius berichtet derzeit für die SZ aus Syrien und recherchierte hierfür in den vergangenen Tagen auch in der umkämpften Stadt Aleppo. Im Telefongespräch erzählt er von der Lage vor Ort, seinen Arbeitsbedingungen und möglichen Szenarien in den kommenden Wochen.

Aleppo, Syrien

Eine flüchtende Frau mit Kind in einem ausgebombten Stadtteil Aleppos: Nicht in allen Stadtteilen tobt der Kampf.

(Foto: REUTERS)

Herr Avenarius, wie haben Sie sich Zugang nach Aleppo verschafft?

Tomas Avenarius: Ich bin ganz offiziell mit einem Visum der Regierung nach Syrien eingereist. Offizielle Stellen haben mich zwar nicht dabei unterstützt, nach Aleppo zu reisen, sie haben es aber auch nicht verboten. Und dort konnte ich mich frei bewegen.

Die Regierung hat nicht in irgendeiner Form versucht, Sie zu kontrollieren?

Avenarius: Die Regierung hat mich nicht an irgendetwas gehindert, weil die Regierung gar nicht in Erscheinung getreten ist. Auch die Leute in den Regierungsstellen trauen sich nicht mehr auf die Straßen. Ich sollte mich zum Beispiel im Bürgermeisteramt Aleppos melden. Ich habe dort auch angerufen und gefragt, ob mich jemand abholen kann, doch die meinten, ich müsse schon selbst kommen. Der Taxifahrer hat dann allerdings gesagt: Da fahre ich nicht hin. Die zentralen Regierungseinrichtungen gleichen Festungen. Sie sind Hauptziele der Rebellen. Da geht keiner rein und raus.

Waren Sie alleine in der Stadt unterwegs?

Avenarius: Ja. Ich war in den Gebieten, die im Moment nicht umkämpft sind, das sind vor allem die Gebiete im Westen, auch in einigen christlichen Vierteln, ich war in der Altstadt und ich war in sogenannten befreiten Gebieten. Das sind Gebiete in denen die Rebellen immer wieder auftauchen, wo aber sofort wieder gekämpft würde, wenn die Kämpfer Assads zurückkämen. Das geht sehr schnell.

Wie ist die Situation in Aleppo im Moment?

Avenarius: Seit die Rebellen vor knapp zwei Wochen mit mehreren tausend Kämpfern nach Aleppo eingedrungen sind, wird um große Stadtteile gekämpft. Die haben dadurch auch einen hohen symbolischen Wert gewonnen, sie stehen im Zentrum der, wie Assad es genannt hat, "Mutter aller Schlachten".

Was aber gleichzeitig stattfindet, ist ein extremer Fluss von Gefechten und Schießereien innerhalb der ganzen Stadt. Es kann plötzlich irgendwo losgehen. Es ging auch, als ich dort war, unterhalb des Hotels plötzlich los. Das kann überall sein, dauert meist nicht lang und die Kämpfer ziehen sich dann schnell wieder zurück. Da hat die Regierung keinerlei Kontrolle mehr.

Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel

Wer hat die Kontrolle?

Avenarius: Ich bin skeptisch, wenn es heißt, die Rebellen kontrollieren die Hälfte der Stadt. Wenn man alle "befreiten Gebiete" mitzählt, dann kann man das sicher so sagen. Doch für mich sind das keine befreiten, kontrollierten Gebiete, für mich sind das Schlachtfelder, auf denen eben im Moment nicht gekämpft wird. Der Trick der Rebellen ist, sich überall in der Stadt zu bewegen und damit den Anspruch zu erheben, große Gebiete befreit zu haben. Das heißt aber nicht, dass die Armee des Regimes nicht zurückkommt.

Werden die Rebellen diese Gebiete halten können?

Avenarius: Die Armee Assads kommt dorthin, wo die Freie Armee ist. Und die Freie Armee hat, im Gegensatz zum Regime, ja viel weniger Kämpfer. Das macht die Erfolge ja auch so erstaunlich. Doch das Regime hat wohl die halbe syrische Armee nach Aleppo verlegt, die wartet jetzt am Stadtrand.

Ich glaube, dass die eigentliche Offensive Assads noch gar nicht begonnen hat. Er lässt sehr viel aus der Luft und mit Artillerie bombardieren, aber in den Vierteln wird noch nicht mit voller Kraft gekämpft. Dort ist es auch schwieriger für eine Armee, Untergrundkämpfer haben dort bessere Möglichkeiten. Was die Generäle planen, das weiß ich nicht, aber ich glaube, sie wollen mit einer erdrückenden Übermacht in die Stadt vorrücken, weil das für sie weniger verlustreich wäre.

Wie geht es den Zivilisten vor Ort?

Avenarius: Die Menschen sind wahnsinnig verängstigt. Sie haben Angst in die Stadt zu gehen, haben Angst, Einkaufen zu gehen, haben Angst, zur Arbeit zu gehen. Wenn überhaupt noch gearbeitet werden kann. Doch der Eindruck, der in vielen Medien erweckt worden ist, stimmt nicht: Es ist nicht so, dass ganz Aleppo brennt. Einzelne Stadtteile sind brutal umkämpft, werden ständig bombardiert. Es gibt aber auch noch einen Stadtteil, in dem es ganz ruhig ist, in dem man sogar noch Leute in Lokalen sieht.

Diese Orte liegen allerdings nur ein paar Kilometer auseinander. Und die Rebellen bewegen sich mit Autos relativ ungehindert in der Stadt. Genau das fürchten die Leute: Das plötzlich in der Altstadt geschossen wird, plötzlich ein paar Bewaffnete eine Gasse runterrennen und man nicht weiß, was gleich passiert. Sie sind nirgendwo sicher, wenn sie in Aleppo leben.

Wie geht es dort weiter?

Avenarius: Es gab Gerüchte, dass die Rebellen jetzt auch ein christliches Viertel angreifen wollten. Nicht die Christen dort, sondern die regimetreuen Soldaten, die dort stationiert sind. Sollte das so kommen, dann wird es, glaube ich, noch mal härtere Kämpfe geben. Viele Christen fühlen sich bedroht und werden nicht automatisch auf die Seite der Rebellen wechseln. In den Sunniten-Vierteln unterstützen die Menschen die Rebellen nicht aktiv, aber viele sympathisieren mit ihnen. In den Christen-Vierteln wird das anders sein.

Damaskus ist nicht unter Kontrolle

Findet im Moment in Aleppo die Entscheidungsschlacht statt?

Avenarius: Verloren hätte Assad noch nicht, wenn die Rebellen tatsächlich Aleppo kontrollieren würden. Er hätte noch Damaskus, könnte sich in seine Heimatregion zurückziehen. Aber es wäre wohl der entscheidende Wendepunkt in diesem Konflikt. Wenn die Rebellen wirklich dauerhaft eine so große Stadt kontrollieren könnten, oder auch nur Teile einer so großen Stadt, und sie dort massiv Kämpfer konzentrieren könnten, sie vielleicht sogar Fabriken hätten, in denen sie Waffen bauen könnten, so wie in Libyen die Rebellen primitive Raketenwerfer bauen konnten: Das hätte gewaltige Folgen. Deshalb ist es auch für Assad so wichtig, genau das zu verhindern. Aber ob ihm das noch gelingen kann, ich weiß es nicht. Was ich weiß: Er lässt einfach alles zusammenschießen.

Aber seine Truppen sind doch weit in der Überzahl. Wie kann es den Rebellen gelingen, sich zu behaupten?

Avenarius: Assad hat eine riesige Armee von 300.000 Mann, das stimmt, aber die ist nur zum Teil zuverlässig. Das ist eine Wehrpflichtigenarmee, da sind viele Sunniten dabei, die nicht auf ihre eigenen Leute schießen. Er kann also nur einen Teil seiner Armee einsetzen und ich habe den Eindruck, dass diese Armee extrem überdehnt ist. Denn Assad braucht loyale Truppen nicht nur in Aleppo, sondern auch in Damaskus und in vielen anderen Teilen des Landes.

Die Schlacht um Aleppo ist auch eine Propagandaschlacht. Ständig veröffentlicht die eine oder die andere Seite beispielsweise Handyvideos, mit denen sie den Gegner Gräueltaten vorwirft. Was bedeutet das für Ihre Arbeit als Journalist?

Avenarius: Ich sehe nur Bruchteile eines sehr facettenreichen Bildes und weiß, dass meine Kollegen auch nur Bruchteile sehen. Was ich sagen kann, spiegelt nur wider, was ich in kurzer Zeit, in zwei Tagen sehen konnte. Die Rebellen wollen natürlich auch nicht, dass wir Journalisten alles mitbekommen, was dort passiert. Ich bin nicht einmal sicher, ob Herr Assad noch überblickt, was hier in diesem Land geschieht. Ich will nicht den Eindruck erwecken, um mich herum wären Leuten gewesen, die mit Maschinenpistolen um sich schießen. Ich mache in solchen Situationen nur das, was ich für mich selbst verantworten kann.

Sie sind jetzt in Damaskus. Das Regime behauptet, die Offensive der Rebellen dort zurückgeschlagen zu haben.

Avenarius: Das stimmt nicht. Ich habe heute wieder Schüsse gehört. Es fallen permanent Bomben. Wenn sie vom Flughafen in die Stadt fahren, dann sehen sie die riesigen Busse - keine Lastwagen - mit denen die Soldaten zu den Kämpfen gebracht werden. In einem Viertel habe ich gestern ungefähr 15 dieser Busse gesehen, 50 Mann pro Fahrzeug und ein paar Jeeps mit aufmontierten Maschinengewehren. Damaskus ist nicht unter Kontrolle.

Protokoll: Sebastian Gierke

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