Syrischer Flüchtling in Deutschland:Warum gibt es kein Gerät, das mein Integrationslevel misst?

Institut für islamische Theologie

Studentin mit Kopftuch in Münster (Symbolbild).

(Foto: picture alliance / dpa)

Flüchtlinge müssen sich integrieren, fordern Politiker. Unser Autor spricht mittlerweile die meisten Bushaltestellen richtig aus, Bier trinkt er auch gerne. Bleibt die Frage: Reicht das?

Von Yahya Alaous

Seit April 2015 lebe ich in Deutschland, aber ich weiß nicht, wie weit ich bereits in die deutsche Gesellschaft integriert bin. Ich trinke schön viel Bier und habe ein Sprachzertifikat auf Level B1. Das bedeutet, dass ich meinem älteren Nachbarn formvollendet "Guten Tag" wünschen kann und nicht mehr so viele Fehler bei der Aussprache der Namen von Bushaltestellen mache. Immerhin. Auch verstehe ich langsam, dass viele deutsche Freunde die Emails, die ich ihnen freitagabends sende, bis Montagmittag nicht beantworten - das Wochenende ist in Deutschland heilig, egal, wie dringlich meine Email auch sein mag (trotzdem höre ich nicht auf, freitagabends Emails zu senden).

Wenn meine deutschen Freunde meine Frau zur Begrüßung umarmen, dann lächele ich, um zu zeigen, dass ich integriert bin, und im Gegenzug umarme ich ihre Frauen - so wie wir es mit guten Freunden und Freundinnen in Syrien auch immer gehalten haben. Wobei das gegenseitige Umarmen keineswegs die normale Begrüßung für die Ehefrauen von Freunden in Syrien war!

Yahya Alaous

arbeitete in Syrien als politischer Korrespondent einer großen Tageszeitung. Wegen seiner kritischen Berichterstattung saß der heute 42-Jährige von 2002 bis 2004 im Gefängnis, sein Ausweis wurde eingezogen, ihm wurde Berufsverbot erteilt. Nach der Entlassung wechselte er zu einer Untergrund-Webseite, die nach acht Jahren vom Regime geschlossen wurde. Während des Arabischen Frühlings schrieb er unter Pseudonym für eine Oppositions-Zeitung. Als es in Syrien zu gefährlich wurde, flüchtete er mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern nach Deutschland. Seit Sommer 2015 lebt die Familie in Berlin. In der SZ schreibt Yahya Alaous regelmäßig über "Mein Leben in Deutschland".

Wie lässt sich messen, ob man sich schon ausreichend eingelebt hat?

Manchmal mache ich mir Sorgen, ob ich mich schnell genug in die Gesellschaft einfüge - darum mache ich mir dann sehr viele Gedanken. Ich würde gerne irgendwie kontrollieren können, dass ich auf einem normalen Level bin. So wie Diabetiker einfach in die Apotheke gehen können, um ihren Blutzuckerspiegel zu messen, so würde ich gerne auch ein elektronisches Gerät haben, um meinen Integrationsfortschritt zu prüfen.

Es müsste ein Gerät sein, auf das ich mich stellen kann und das dann einfach mein Integrationslevel misst - Level 1, Level 3 - und das mir dann sagt, was ich zu tun habe, um mich noch besser einzuleben. Wenn ich Level 1 hätte, dann würde mir das Gerät sagen, dass ich mehr Bier trinken soll oder mehr Wurst essen. Vielleicht aber auch, dass ich häufiger barfuß auf den Straßen spazieren soll. Mir ist aufgefallen, dass viele Menschen in Deutschland gerne barfuß auf den Straßen laufen, zumindest in dem Stadtteil in Berlin, in dem ich jetzt wohne.

Vielleicht könnte ich auch einfach Medikamente zur Integration nehmen, und wenn ich dann Level 2 oder 3 hätte, dann könnte ich auch wieder ganz beruhigt arabischer Musik lauschen, statt immer an mein Deutsch zu denken... Warum gibt es so ein Messgerät noch nicht? Die deutsche Regierung sollte so etwas erfinden und uns zur Verfügung stellen. Sind die Deutschen nicht Weltmeister der Erfindungen? Ist es nicht absolut notwendig, so etwas zu erfinden, um allen die Integration zu erleichtern?

Integration ist die Zauberformel, um in Deutschland bleiben zu können

Gelungene Integration hat zahllose Vorzüge. Mit ihr ändert sich das Leben, und mit ihr kann man einen ganzen Batzen psychologischer Probleme einfach ablegen. Die Albträume über das ungewohnte Leben in Deutschland verschwinden. Man fühlt sich nicht mehr so isoliert, nur weil man sich darüber wundert, dass erwachsene Männer, Anzugträger mit Krawatten, auf Tretrollern durch die Stadt fahren. Was ist eigentlich falsch gelaufen, dass meine siebzigjährige Mutter ihr ganzes Leben lang ein paar Meter hinter ihrem Mann herlaufen musste - anstatt wie die Frauen hier in ihrem Alter einfach das Fahrrad zu nehmen?

Manchmal glaube ich, dass ich irgendwann auch viel hellere Haut bekommen werde, wenn ich so weiterdenke, und natürlich blaue oder grüne Augen. Dass ich irgendwann ganz deutsch sein werde, so dass zwischen Deutschen und mir gar kein Unterschied mehr ersichtlich sein wird! Vielleicht sind all die Leute mit blauen Augen, die ich jeden Tag sehe, auch gar keine richtigen Deutschen, sondern einfach nur sehr gut integriert, wo auch immer sie herkommen mögen!

Integration ist das meist bemühte Wort dieser Tage. Naja, zusammen mit dem Begriff "Flüchtlingskrise" sehe ich es in allen Medien am häufigsten. Mich würde es auch nicht wundern, wenn ich plötzlich Aushänge sehen oder Emails bekommen würde, in denen stünde: "Lernen Sie sich in 30 Tagen zu integrieren! Wir haben Sonderangebote, zahlen sie für zwei Personen, eine dritte wird dann kostenlos integriert! Rabatte für Familien! Wir bieten ihnen Fernstudiengänge an, lernen Sie etwas über die Geschichte der Integration, besuchen Sie unsere Klinik zur Diagnose ihres Integrationsstandes!

Die Tochter spricht schon im deutsch-arabischen Sprachmix

Integration ist die magische Formel, die die deutsche Regierung davon abhält, Menschen dahin zurückzuschicken, wo sie herkommen - in unser vom Krieg verwüstetes Land. Integration ist ein Weg, Arbeit zu finden, und das ist erstrebenswert. Nur so kann man den Fängen des Jobcenter-Mitarbeiters entkommen, der sonst darauf besteht, wöchentlich besucht zu werden - und mit dem man auch nur auf deutsch sprechen darf. Und die Integration ist natürlich das Größte für diejenigen, die sich Hoffnung auf die deutsche Staatsbürgerschaft machen.

Nach 15 Monaten hier fühle ich mich glücklicherweise schon ziemlich integriert. Fast schon so, als ob ich ganz hierher gehöre. Ich bin solidarisch mit Jan Böhmermann gegen Erdoğan, und ich fühle mich betroffen davon, wie schlecht es den deutschen Milchbauern bei den niedrigen Preisen geht. Ich hasse es, wenn ich sehe, dass Bierflaschenscherben auf den Straßen liegen und werde wütend, wenn es am Wochenende spät abends in den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Erbrochenem riecht. Am liebsten würde ich das viel zu lange Gras mähen, das in Berlin an so manchem Platz vor sich hinwächst.

Jeden Tag, wenn meine kleine Tochter aus dem Kindergarten zurückkommt, bekomme ich so viele deutsch-arabische Geschichten (mittlerweile in deutsch-arabischem Sprachmix) zu hören, dass ich mich fühle, als wäre ich mittendrin in ihrer kleinen deutschen Clique aus Richard, Lucas und Matthias. Ist das nicht das Zeichen wahrer Integration?

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