Syrische Flüchtlinge in Deutschland:Aus der Hölle in die bayerische Kleinstadt

Flüchtlinge aus Aleppo bei der Fahrt in die Türkei

Eine Familie aus Aleppo nach ihrer erfolgreichen Flucht in die Türkei: Das Foto zeigt nicht die Protagonisten unserer Reportage. Ibrahim und Sahar möchten nicht vor die Kamera - aus Angst, ihrer Familie in Syrien zu schaden.

(Foto: AFP)

Ibrahim und Sahar haben in Aleppo alles verloren. Eineinhalb Jahre lang sind die Syrer auf der Flucht, bis sie nach Deutschland kommen. Dass sie überlebt haben, verdanken sie Zufall, Geld und Schauspielkunst.

Von Lara Gruben, Grafrath

Wie sie auf die Idee kommen ihn festzuhalten, fragt er die Zollbeamten an der Passkontrolle des Flughafens in Kiew. Er baut sich vor ihnen auf und knallt seine gefälschten Papiere nacheinander auf den Tisch - Ausweis, Führerschein, Bankkarte. Er knallt sie auf den Tisch, damit die Beamten nicht sehen, dass seine Hände zittern. Was sie denn noch von ihm wollten? Er spricht fließend Englisch. Sie würden von seinen Vorgesetzten hören, wenn er seinen Flug verpasst. Die Beamten lassen ihn gehen. Heute lacht Ibrahim, wenn er die Szene nachspielt. "So habe ich sie angeschaut", sagt er und sein Blick erinnert an Al Pacino im Film Scarface, "und dann bin ich ganz langsam weggegangen."

Ein halbes Jahr später sitzt Ibrahim, 30 Jahre alt, in der Küche seiner Wohnung in Grafrath. Zusammen mit seiner Schwester Sahar, 34, lebt er seit vier Monaten in einer Flüchtlingsunterkunft des Landratsamtes. Das Mehrfamilienhaus fällt kaum auf zwischen den anderen Häusern. Grafrath ist ein ruhiger Ort mit knapp 4000 Einwohnern im Westen von München. Die S-Bahn fährt alle 20 Minuten. Der Ammersee ist nicht weit.

Ibrahim und Sahar kommen aus Aleppo, einer Metropole mit jahrtausendealter Geschichte. Kulturhauptstadt des Islam, Unesco-Welterbe. Dann kam 2011 der Bürgerkrieg. Inzwischen ist Aleppo die Hölle. Jeden Tag sterben dort Menschen, insgesamt müssen es Zehntausende sein. Im Dezember 2012 brechen Ibrahim und seine Schwester auf in Richtung Türkei, 14 Monate später erreichen sie Deutschland - eine Odyssee mit vielen Etappen. Kein Einzelfall: Weltweit sind 2,8 Millionen Syrer auf der Flucht.

Ibrahim hatte sich als Autohändler einen Namen gemacht, eine Familie gegründet, ein Haus gebaut. Er lebte im Luxus, in einer Villa in Kafr Hamra, einem beliebten Vorort von Aleppo. Er fuhr ein teures Auto, hatte Geld für die Ausbildung seines Sohnes gespart. Heute, vier Jahre später, ist davon nichts übrig geblieben. In sein altes Leben kann er nicht mehr zurück.

In Aleppo kann Sahar monatelang nicht das Haus verlassen

Ibrahim ist groß und kräftig. Er hat dunkelbraune, kurze Haare, trägt Jeans und ein schwarzes Langarmshirt mit V-Ausschnitt. Sahar trägt ihre langen braunen Haare offen. Auch sie ist groß. Dass sie verwandt sind, ist unschwer zu erkennen. Die großen, braunen Augen, das breite Lächeln. Beide sehen erholt aus. Träfe man sie auf der Straße, es wäre nicht zu erahnen, was die zwei durchgemacht haben.

Sahar spricht nicht über Syrien. Als ihr Bruder anfängt, vom Krieg zu erzählen, geht sie aus dem Raum.

Sommer 2012: Der Ort in dem Ibrahim und seine Familie leben, gerät zwischen die Fronten von Regierungstruppen und Opposition. Monatelang verlässt Sahar den Keller nicht. Nur Ibrahim geht vor die Tür, um Lebensmittel für die Familie zu kaufen. Jedes Mal wenn er sich verabschiedet, weiß er, es könnte für immer sein. "Männer, Kinder, Katzen, die schießen auf alles", sagt er.

Über Facebook-Gruppen findet er heraus, wann wo geschossen wird. Meist fangen die Angriffe in der Dämmerung an und dauern die ganze Nacht. Erst in den Mittagsstunden traut sich Ibrahim auf die Straße. An so etwas wie Alltag ist nicht mehr zu denken. Die Entscheidung zur Flucht fällt Ende 2012. Mit Mutter, Schwester, Frau und Kindern bringen sich Ibrahim und Sahar zunächst im türkischen Gaziantep in Sicherheit, 180 Kilometer entfernt. Hauptsache raus aus Aleppo.

Bei Temperaturen unter null Grad steigen sie in ein Fischerboot

Von Gaziantep aus wagen Ibrahim und Sahar den ersten Fluchtversuch nach Europa. Als Familie zu flüchten wäre nicht nur zu teuer, sondern auch zu riskant. Am leichtesten haben es junge Erwachsene, die alleine reisen. Deshalb machen Ibrahim und Sahar den Anfang, mit dem Ziel, die Familie nachzuholen.

In der türkischen Hafenstadt Karataş beginnt ihre Odyssee. Ein großes, stabiles Boot versprechen die Schlepper Ibrahim und Sahar. Sie zeigen ihnen eines, luxuriös, mit Kabine und zwei Decks. Als es in der Nacht losgeht, müssen sie in ein Fischerboot steigen, ohne Kabine und Luxus, dafür mit 14 anderen Flüchtlingen. Es ist Januar und die Temperatur liegt unter null Grad. Ibrahim hat ein Foto von sich kurz vor der Flucht auf dem Handy. Er trägt Daunenjacke und Mütze.

Sie kommen bis kurz vor die Küste Zyperns. Dort wartet die Polizei auf sie. Die Schlepper drehen um, aber zu schnell. Die Spitze des Bootes schnellt in die Höhe, Wasser schwappt hinein. Das Boot droht zu kentern. Sahar ist in dem Moment sicher: Das ist ihr erster und letzter Versuch. Doch sechs weitere folgen.

Ein halbes Jahr später steigen sie wieder in ein Fischerboot. Ihr Wille, das Land zu verlassen, ist größer als die Angst zu scheitern. Wochenlang planen sie ihre Fluchtversuche. Schlepper bringen sie im Bus von Stadt zu Stadt. Immer auf der Suche nach den perfekten Bedingungen. An einem Tag fahren sie acht Stunden von Gaziantep die Küste entlang Richtung Westen bis Gazipaşa bei Alanya und stellen fest, dass es auch dort zu unsicher ist, weil die Polizei vor Ort ist. Also fahren sie wieder zurück.

Als Familie zu flüchten ist zu teuer und zu gefährlich

Flüchten wollen alle, sagt Ibrahim. Im Fischerboot fliehen kann nicht jeder. Die Alternativen sind das Schlauchboot oder die eigenen Füße. Flüchten ist eine Geldfrage: Wer mehr hat, der hat höhere Chancen zu überleben. Ibrahim hat sein Auto verkauft. 65.000 Euro hatte es ihn vor dem Krieg gekostet, 20.000 hat er vor einem Jahr noch dafür bekommen. Für die ganze Familie reichen die Ersparnisse nicht. Alleine ein gefälschter Pass für Ibrahims dreieinhalbjährigen Sohn hätte 10.000 Euro gekostet. Die Schlepper machen keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern.

Nach dem gescheiterten Fluchtversuch mit dem Boot versuchen es Ibrahim und Sahar mit dem Flugzeug. Sie fliegen von der Türkei nach Ägypten. Schlepper fälschen ihnen Pässe, mit denen sie von Ägypten weiter nach Europa fliegen sollen. Doch am Flughafen in Kairo werden sie erwischt. Die Polizei will sie zurück nach Syrien schicken. Wieder haben sie Glück. Ibrahim kann die Polizei überzeugen, ihn und Sahar zurück in die Türkei zu lassen. Sie wollen überall hin, nur nicht zurück nach Aleppo.

Ihr zweiter Versuch ist erfolgreich. Umgerechnet 10.000 Euro zahlen Ibrahim und Sahar jeweils für Flug und gefälschte Pässe. Sahar fliegt von Istanbul nach Berlin, Ibrahim von Istanbul über Kiew nach Frankfurt. Sie fliegen alleine, um nicht aufzufallen. Sahar fällt niemandem auf. Ibrahim überzeugt in der Rolle des aufgebrachten Geschäftsmanns. Sie treffen sich in Zirndorf, einer zentralen bayerischen Aufnahmestelle für Flüchtlinge in der Nähe von Nürnberg. Von den Aufnahmestellen aus werden Flüchtlinge deutschlandweit verteilt. Laut Bundesinnenministerium haben bisher insgesamt 40.000 Flüchtlinge in Deutschland Zuflucht gefunden.

Nachts stellen die Flüchtlinge Stühle vor die Türen, um Einbrecher zu hören

Ibrahim und Sahar haben es geschafft. Nach eineinhalb Jahren auf der Flucht. In Zirndorf bekommen Ibrahim und Sahar Zimmer und Bett zugeteilt. Aber die Flüchtlinge haben ihre eigenen Regeln. In seinem Zimmer sagt man Ibrahim, das sei das Serben-Zimmer. An den Türen hängen Zettel, auf die die Männer mit Kugelschreiber in der jeweiligen Landessprache Nationalitäten geschrieben haben - Georgien, Armenien, Bosnien und Syrien. Die Männer trennen strikt. Die Stimmung ist angespannt, immer wieder werden einzelne gewalttätig, erinnert sich Ibrahim. Nachts stellen die Männer Stühle von innen an die Tür, damit sie hören, wenn jemand versucht einzubrechen. Ein Mal am Tag kriegen Ibrahim und Sahar warmes Essen. Bis zu zwei Stunden müssen sie dafür in der Schlange stehen. Abends können sie selbst kochen. Aber die Küche ist dreckig, Boden und Arbeitsfläche werden mit dem gleichen Lappen gewischt. Sie müssen sich die Hose hochkrempeln und Badeschuhe anziehen, wenn sie in die Küche gehen. So dreckig ist es dort.

Nach einem Monat in Zirndorf kommen Ibrahim und Sahar in der Flüchtlingsunterkunft in Grafrath unter.

Sie sind dankbar überlebt zu haben. Hoffnung, bald wieder nach Syrien zurückzukehren, machen sie sich nicht. Was sie in Grafrath beschäftigt, ist die Familie. Getrennt von Frau und Kind wartet Ibrahim auf seine Aufenthaltsgenehmigung. Ibrahims Frau und sein Sohn leben noch in der Türkei, genauso wie seine Schwester mit zwei Kindern und seine Mutter. Großmutter, Tanten und Cousins sind in Aleppo geblieben. Zu teuer und zu gefährlich wäre eine Flucht mit der ganzen Familie.

Ibrahim zählt die Tage. 187 sind vergangen, seit er seine Frau und seinen Sohn zuletzt gesehen hat. Wie viele es noch werden, weiß er nicht. "Es hängt alles von Glück ab", sagt Ibrahim, "Glück und Geld."

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