Mindestens 40.000 Menschen seien in Syrien seit Beginn der Proteste gegen die Regierung Baschar al-Assads im März 2011 getötet worden. Das zumindest meldete erst kürzlich die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte aus London. Die Organisation ist mit Beginn der Aufstände zu einer der wichtigsten Quellen westlicher Medien geworden. Todeszahlen und Berichte über Gefechte kommen oft von ihr. Auch auf Süddeutsche.de wurden Informationen der Beobachtungsstelle immer wieder zitiert.
Doch wer steckt hinter dieser Organisation? Von wem wird sie geleitet? Und welche Ziele verfolgt sie? Wer sich mit der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte eingehend beschäftigt, stößt auf ein kompliziertes Beziehungsgeflecht ominöser syrischer Nachrichten-Protokollanten. Und es wird klar: Allem Anschein nach gibt es in London keine solche Organisation.
Eigentlich ist es längst kein Geheimnis mehr (siehe Berichte beim österreichischen Standard oder Reuters), dass die Beobachtungsstelle ein Ein-Mann-Betrieb mit Sitz in Coventry ist, einer Stadt mit 300.000 Einwohnern, etwa 150 Kilometer nördlich von London. Eine Londoner Gruppe gleichen Namens, die es auch gab, ist heute nicht mehr aktiv.
Der Leiter der Organisation aus Coventry und, wie er bestätigt, ihr einziger fester Mitarbeiter nennt sich Rami Abdul-Rahman. Unterstützt wird er, sagt er am Telefon, immer wieder von Freiwilligen, die die englischen und spanischen Texte für Facebook und Twitter schreiben.
Der Einzelkämpfer mit dem Bekleidungsgeschäft
Der Name Abdul-Rahman ist ein Pseudonym. Mit bürgerlichem Namen heißt der Aktivist Osama Suleiman. Im Herbst 2011 wurde er von Kritikern geoutet. Obwohl er daraufhin sogar seinen Pass im Fernsehen präsentierte, lässt er sich immer noch lieber pseudonym zitieren - zu seinem Schutz, aber vor allem, weil er sich mit dem Namen identifiziere. In diesem Text soll er trotzdem Osama Suleiman heißen - denn er war womöglich nicht der einzige, der als Abdul-Rahman auftrat.
Suleiman ist Exil-Syrer, nach eigenen Angaben saß er als Oppositioneller dreimal in syrischen Gefängnissen und wanderte im Jahr 2000 nach Großbritannien aus, um einer vierten Haft zu entgehen. Er zog nach Coventry, wo er mit seiner Frau ein Bekleidungsgeschäft betreibt. Mittlerweile ist er britischer Staatsbürger.
Die Beobachtungsstelle wurde im Jahr 2006 ins Leben gerufen. Ob Suleiman wirklich einer von zwei Gründern ist, wie er behauptet, lässt sich nicht überprüfen. In der Tat aber datieren die ersten Presseberichte, die sich auf die Beobachtungsstelle berufen, vom Mai 2006. Und sie zitieren als Gründer: Rami Abdul-Rahman. Im selben Jahr wurde die Domain " syriahr.com" registriert, unter der die Beobachtungsstelle heute im Internet auftritt. Auch unter " syriahr.net" ist die Beobachtungsstelle aktiv; diese Domain wurde 2009 reserviert.
Auf einmal gibt es zwei Beobachtungsstellen in London
Richtig kompliziert wird es am 17. August 2011. An diesem Tag wird unter dem Namen Muhammad al-Haddad und mit einer Londoner Adresse noch eine dritte Domain registriert, die sich nur durch die Endung von den beiden anderen unterscheidet: " syhriar.org". Als Organisation gibt er an: Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Unter derselben Domain war, wie das Netzarchiv archive.org zeigt, schon einmal eine Website der Beobachtungsstelle online - mit denselben Kontaktdaten, die heute zu Osama Suleiman führen. Allerdings nur bis 2009. Dann erschien unter der Adresse für einige Zeit ein englischsprachiger Blog.
Am selben Tag veröffentlicht der britische Daily Telegraph einen Artikel, der nicht Rami-Abdul-Rahman als Mitglied der Beobachtungsstelle zitiert, sondern einen Mann namens Mousab Azzawi, Arzt aus London. Bis in den Dezember 2011 finden sich Artikel und Fernsehbeiträge, von BBC über ABC bis Al-Dschasira, in denen Azzawi als Sprecher auftritt.
Am 17. Januar 2012 erscheint auf der im Juli eingerichteten Internetseite ein offener Brief, der heute nur noch als Kopie im Netz zu finden ist. Als Unterzeichner werden acht Personen genannt, die als Treuhänder der Beobachtungsstelle bezeichnet werden, darunter ist auch Mousab Azzawi. In dem Brief wird Osama Suleiman vorgeworfen, er habe sich nach seinem Rauswurf die Website unter den Nagel gerissen und so die Beobachtungsstelle gekapert. Daher habe man die neue Website syriahr.org aufgesetzt.
Suleiman sei lediglich freier Mitarbeiter gewesen und habe während seiner Zeit in der Beobachtungsstelle, so der Vorwurf zwischen den Zeilen, Propaganda für die syrische Regierung gemacht. Deshalb habe er gehen müssen. Im Übrigen hätten alle Mitglieder der Organisation das Pseudonym "Rami Abdul-Rahman" benutzt, bevor man entschieden habe, der Glaubwürdigkeit wegen unter Klarnamen aufzutreten. Es sei also nie nur Suleimans Alias gewesen.
Der Brief schließt mit dem Hinweis an Journalisten: "Sie werden bereits bemerkt haben, dass die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London sitzt. Und zwar deshalb, weil die Mehrzahl der Mitglieder dort leben, wohingegen Herr Suleiman als einziger in Coventry lebt." Darunter steht: "Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (London)".
Beide Gruppen kommen in den Medien zu Wort
Suleimans Version der Geschichte geht ganz anders. Er sagt, Mousab Azzawi habe eine Zeitlang für ihn übersetzt, sich dann aber ohne Erlaubnis öffentlich als Rami Abdul-Rahman und als Sprecher der Beobachtungsstelle ausgegeben. Deshalb habe Azzawi die Beobachtungsstelle verlassen müssen. Auf der Startseite von Suleimans Internetauftritt steht: "Die einzige offizielle Webseite der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte".
Das Ergebnis dieses Konflikts: Ein knappes halbes Jahr lang informierten allem Anschein nach zwei konkurrierende Gruppen aus Großbritannien unter demselben Namen die Welt. Noch im Juli 2012 zitierte etwa die britische Wochenzeitung The Observer Mousab Azzawi als Sprecher der Beobachtungsstelle - da trat der schon lange als Vertreter einer ganz anderen Organisation auf.
Welche der beiden Konfliktparteien die Wahrheit sagt oder ob es überhaupt eine tut, ist nicht klar. Großes Interesse an Aufklärung scheint indes keiner der Beteiligten zu haben.
Suleiman hat sich im Herbst 2011 schon mit dem britischen Außenminister William Hague getroffen. Er hat auch immer wieder Journalisten zu sich nach Hause eingeladen. Jetzt aber lehnt er am Telefon ein Treffen ab. Über Azzawi und den Streit will er nicht reden. Auf konkrete Fragen antwortet er meist mit langen Ausführungen über das Leiden der Syrer. Um die gehe es doch schließlich, nicht um ihn.
Anders als Suleiman sind seine Kritiker, die acht Treuhänder aus dem offenen Brief, seit dessen Publikation öffentlich kaum mehr in Erscheinung getreten. Die Website "syriahr.org" ging irgendwann im September 2012 vom Netz.
"Mit dieser alten Geschichte habe ich abgeschlossen"
Drei der Acht, Maya Fateh, die mittlerweile in Syrien leben soll, Mohammed al-Haddad und Omar Abdel Sayed sind gar nicht zu erreichen. Bei Mohammed Antabli, der ein Restaurant im Londoner Westen führt, laufen Anfragen wochenlang ins Leere.
Ähnlich ist es bei Lina Jamoul, die in London Gemeindearbeit macht. Als sie sich dann doch meldet, erklärt sie knapp, sie habe nie etwas mit der Beobachtungsstelle zu tun gehabt und sei auch keine Treuhänderin gewesen. Ob sie sich von dem offenen Brief distanzieren könne? Sie wolle sich dazu nicht äußern, weil sie nichts zu sagen habe.
Ghassam Ibrahim, Chef und Herausgeber des Global Arab Network in London, hatte vor einiger Zeit schon einmal dementiert, den offenen Brief unterzeichnet zu haben. Im Büro, in das die Rezeption durchstellt, sagt ein Mann, der sich nicht vorstellt, Ibrahim arbeite in einer anderen Abteilung. Wenige Minuten später erklärt unter derselben Nummer eine Stimme, Ibrahim sei noch einige Zeit im Urlaub.
Husam al-din Mohammed von der Zeitung al-Quds al Arabia in London ist der einzige, der sich überhaupt äußert, wenn auch erst widerwillig. Er lässt durchklingen, dass er für die Beobachtungsstelle gearbeitet habe. Aber er habe "mit dieser alten Geschichte" abgeschlossen. Anders als Lina Jamoul oder Ghassan Ibrahim bestätigt er, was die Zeitung Al-Akhbar schon einmal berichtet hat: Den offenen Brief kenne er. Mousab Azzawi habe ihn veröffentlicht, der wisse mehr. Eine aktuelle Nummer von Azzawi habe er aber nicht, sie hätten seit Januar keinen Kontakt mehr.
Azzawi ist der einzige der acht, der immer noch offen in Sachen Syrien aktiv ist. Kurz nachdem der offene Brief im Januar veröffentlicht worden war, trat er plötzlich als Chef-Koordinator und Sprecher einer Organisation mit sehr ähnlichem Namen und sehr ähnlicher Internetadresse auf: dem "Syrischen Netzwerk für Menschenrechte", im Internet unter "syrianhr.org" zu finden (die Website, auf der der offene Brief erschien, hieß "syriahr.org"). Auch er antwortete nicht auf E-Mail-Anfragen.
Eine Gruppe sprach sich für, die andere gegen eine Intervention aus
Was zunächst aussieht, wie eine persönliche Fehde, hat durchaus eine politische Komponente. Osama Suleiman hat sich immer wieder gegen eine militärische Intervention in Syrien ausgesprochen, während Mousab Azzawi ein solches Eingreifen wiederholt gefordert hat.
Der Streit zwischen den beiden Gruppen verstärkt zudem Zweifel, ob die Beobachtungsstelle eine verlässliche Quelle ist. Zweifel, die bislang vor allem Verschwörungstheoretiker und Regimefreunde wie das russische Außenministerium äußerten.
Ihre Informationen bezieht die Beobachtungsstelle nach Suleimans Angaben von etwa 200 Informanten in Syrien und einigen weiteren in Nachbarstaaten. Ob das stimmt und wie verlässlich deren Berichte sind, lässt sich nicht prüfen.
"Ein gutes Netzwerk am Boden"
Nadim Houry, der für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in Beirut arbeitet, bestätigt aber, dass HRW schon vor dem Bürgerkrieg Kontakt zu einem Rami Abdul-Rahman hatte. Er wisse allerdings nicht, wer sich hinter dem Namen verberge und auch nicht, ob es sich immer um dieselbe Person gehandelt habe.
Und Houry sagt: "Die Beobachtungsstelle hat auf jeden Fall ein gutes Netzwerk am Boden in Syrien". Man könne natürlich nicht alles nachrecherchieren, doch im Allgemeinen seien die Informationen der Beobachtungsstelle verlässlich gewesen. Ähnliches erzählt ein Sprecher von Amnesty International auf Anfrage.
Weil es so wenig gesicherte Informationen gebe, könne man die Beobachtungsstelle als Quelle wohl nutzen, meint daher auch der Politikwissenschaftler André Bank vom GIGA-Institut für Nahost-Studien in Hamburg. Allerdings wüssten weder er noch andere Nahostexperten, die er kenne, mehr über die Hintergründe der Organisation.
Man müsse aber auch andere Quellen nutzen und dürfe die Beobachtungsstelle nicht als privilegierte Quelle betrachten. "Man kann wahrscheinlich sowieso nicht unpolitisch über einen Bürgerkrieg berichten", sagt Bank. Also bleibe nichts anderes übrig, als seine Quellen möglichst transparent zu benennen.