Süddeutsche Zeitung

Syrien-Konflikt:120 Stunden Atempause

  • Die Türkei sagt nach Angaben der USA für 120 Stunden zu, alle militärischen Aktivitäten ruhen zu lassen. In der Zeit sollen die Kurdenmilizen abziehen.
  • Wenn das passiert, werde die Türkei ihre Offensive beenden und die USA würden die Sanktionen gegen die Türkei aufheben.
  • Ob die von den Kurden angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte aus der Gegend abziehen werden, ist unklar.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Die Türkei wird alle militärischen Aktionen in Nordsyrien ab sofort stoppen, aber erst einmal nur für 120 Stunden. Das habe die türkische Regierung zugesichert, verkündete der amerikanische Vizepräsident Mike Pence am Donnerstagabend in Ankara. Mehr als fünf Stunden hatten die Gespräche mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vor dieser überraschenden Einigung gedauert.

Die Kurden-Miliz YPG könne während der Waffenruhe aus der Region abziehen, teilte Pence mit. Sie müsse ihre schweren Waffen zurücklassen, ihre Befestigungsanlagen würden abgebaut, heißt es dazu in einer gemeinsamen amerikanisch-türkischen Erklärung. Der Militäreinsatz der Türkei werde enden, sobald die YPG ganz abgezogen ist. Aus Washington twitterte US-Präsident Donald Trump: "Großartige Neuigkeiten" - "Millionen von Leben werden gerettet werden."

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu schränkte ein, es handele sich "nicht um einen Waffenstillstand", sondern nur um eine Unterbrechung der Kampfhandlungen. Pence wiederum sicherte zu, bei einer dauerhaften Waffenruhe in Nordsyrien würden die USA ihre Sanktionen wieder aufheben, die Washington nach dem Beginn der türkischen Militäraktion vor gut einer Woche verhängt hat. Vorerst würden auch keine weiteren Strafmaßnahmen erwogen.

Erdoğan hatte zuvor ein Ende der Offensive mehrmals kategorisch abgelehnt, solange die Türkei nicht ihr Ziel erreicht habe, eine 30 Kilometer breite "Sicherheitszone" von der kurdischen YPG "zu säubern". Ankara betrachtet die syrische Kurdenmiliz als Teil der türkisch-kurdischen PKK, die als Terrororganisation gilt.

Wegen der Offensive in Nordsyrien stand die Türkei unter starkem internationalen Druck, nicht nur aus den USA und Europa, sondern auch aus Russland. Auch die Arabische Liga hatte Ankara deshalb kritisiert. Groß waren allseits die Ängste vor einem Wiedererstarken der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), über Syrien hinaus. Die syrischen Kurden, die Tausende IS-Häftlinge und ihre Familien in Gefangenenlagern bewachten, erklärten kurz vor der Einigung von Ankara, sie hätten den Kampf gegen den IS ausgesetzt. "Wir haben in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass der Kampf gegen den IS im Fall eines Angriffs des türkischen Staates für uns zur Nebensache wird", zitierte die kurdische Nachrichtenagentur Firat den Kommandeur Maslum Abdi.

Erdoğan hatte den US-Abzug als Freibrief für die türkische Offensive verstanden

Dieser Fall sei nun eingetreten. "Wir haben all unsere Aktivitäten gegen den IS eingefroren", sagte Abdi. Er teilte am Abend auch mit, dass die kurdischen Kämpfer die Feuerpause akzeptieren. Und Pence betonte, dass sich Türkei und USA zusätzlich zu dem Abkommen über eine Waffenruhe gemeinsam dazu verpflichtet hätten, die Aktivitäten des IS in Nordsyrien zu bekämpfen. Was dies nun für den von US-Präsident Donald Trump erst vor wenigen Tagen befohlenen Truppenabzug aus der Region bedeutet, blieb offen. Erdoğan hatte den Abzug als Freibrief für die türkische Offensive verstanden.

Pence war am Donnerstag zusammen mit US-Außenminister Mike Pompeo, Sicherheitsberater Robert O'Brien und dem Syriensondergesandten James Jeffrey nach Ankara gekommen. Gut eineinhalb Stunden sprachen zuerst Pence und Erdoğan miteinander, dann ging es drei Stunden im Präsidentenpalast im größeren Kreis weiter. Die von der Türkei verlangte "Sicherheitszone" entlang ihrer Grenze war ebenfalls Gegenstand der Gespräche. Man habe sich dazu verpflichtet, "eine friedliche Lösung für die Zukunft" zu schaffen, sagte Pence. Ankara will in dieser Zone auch ein bis zwei Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die derzeit noch in der Türkei leben. Çavuşoğlu sagte, die Türkei und ihre Armee würden weitgehend die Kontrolle über diese Zone haben. Die Türkei habe damit alles erreicht, was sie wollte.

Ob die Regierung in Damaskus dem allerdings zustimmen würde, ist zumindest ungewiss. Der syrische Diktator Baschar al-Assad hatte noch am Donnerstag die türkische Offensive als "kriminelle Aggression" verurteilt und angekündigt, seine Armee werde sich den türkischen Truppen entgegenstellen. Größten Einfluss auf Damaskus dürfte derzeit Russland haben. Erdoğan wird am Dienstag in Sotschi auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin treffen. Eine Sprecherin des Außenministeriums in Moskau hatte am Donnerstagvormittag noch gesagt, Sicherheit könne es in Syrien nur geben, wenn die syrische Regierung die Kontrolle übernehme - auch an der Grenze zur Türkei.

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SZ vom 18.10.2019/jael
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