Syrien:Unter dem Damoklesschwert

Die türkische Invasion in die syrischen Kurdengebiete ist verschoben, nicht aufgehoben. Welche Auswirkungen sie auf den Kampf gegen den IS haben könnte, zeichnet sich bereits ab.

Von Moritz Baumstieger, Christiane Schlötzer, Istanbul/München

Dass ihr Protest im fernen Washington nicht groß beeindrucken würde, wussten die Menschen in den Kurdengebieten im Nordosten Syriens. Dennoch gingen viele von ihnen am Donnerstag und Freitag auf die Straßen, in der Stadt Kobanê etwa oder vor der ehemaligen Zementfabrik der Firma Lafarge 50 Kilometer weiter südlich, auf deren Gelände die nach Syrien abkommandierten US-Soldaten ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben. Bisher jedenfalls.

Um ihre Wut über Donald Trumps Entscheidung zum Abzug der Truppen zu zeigen, trugen Demonstranten Bilder von Angehörigen, die ihr Leben im Kampf gegen den IS ließen. "Sie ist an der Seite von Amerikanern gestorben - und wenn ihr geht, werde auch ich sterben", rief Berichten zufolge eine Mutter, deren Tochter in der Frauenmiliz YPJ gedient hatte. Die Angst, dass der Bürgerkrieg bald auch wieder östlich des Euphrat voll ausbricht, ist in den kurdisch kontrollierten Gebieten groß: Eine Invasion der Türkei im Norden, ein Angriff der Assad-Truppen von Süden und verstärkte Attacken von IS-Schläferzellen - all das scheint nun möglich zu sein.

Die Angriffe der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) gegen die letzten verbliebenen IS-Bastionen im südlichen Euphrattal gingen trotz allem weiter. Vor drei Tagen erst hatten die USA Berichten kurdischer Politiker zufolge größere Mengen an Waffen und Ausrüstung an die SDF geliefert. Die Gründung dieser von den Kurden angeführten, aber auch aus Arabern und Turkmenen aufgestellten Armee hatten die USA wesentlich mit vorangetrieben, ihre Kämpfer später ausgebildet und beraten.

„Zur Kenntnis genommen“

In Berlin hat man nach der Ankündigung des Truppenabzugs aus Syrien den Ton gegenüber den USA noch einmal verschärft. Die Bundesregierung habe "die Entscheidung der USA, über die sie vorab nicht informiert worden ist, zur Kenntnis genommen", sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Freitag. Sie fügte hinzu: "Als Verbündeter und Teil der Anti-IS-Koalition hätten wir vorherige Konsultationen mit der US-Regierung über einen Abzug der US-Truppen als hilfreich empfunden." Der angekündigte Abzug habe das "Potenzial, die Dynamik in diesem Konflikt erneut zu verändern", sagte Demmer. Aus Sicht der Bundesregierung gehe weiter eine Gefahr von der Extremistenmiliz IS aus. Sie bekräftigte damit eine Sorge, die Außenminister Heiko Maas am Vortag geäußert hatte. Auch der Sprecher des Verteidigungsministeriums betonte, die Aufgabe, den IS zu bekämpfen und die Stabilität in Syrien und im Irak zu fördern, sei "nicht erledigt" und bedürfe weiter "großer Anstrengungen". Demmer vermied es auch auf Nachfrage, die USA als verlässlichen Partner zu bezeichnen. Sie sagte, Europa und die USA stünden "zahlreichen Herausforderungen gegenüber", und es sei die "tiefe Überzeugung" der Bundesregierung, "dass es in deutschem und auch amerikanischem Interesse liegt, dass wir diese Herausforderungen gemeinsam meistern". Auch betonte sie die "tiefe Freundschaft" zwischen beiden Ländern. Auf Nachfrage räumte Demmer "Differenzen" mit den USA ein. Diese gelte es anzusprechen und gemeinsame Lösungen zu finden. Die USA seien "ein wichtiger Bündnispartner". Mit Blick auf einen möglichen Abzug amerikanischer Truppen aus Afghanistan hieß es, man bemühe sich in Washington um Aufklärung. Das Wall Street Journal hatte berichtet, etwa die Hälfte der 14 000 US-Soldaten in Afghanistan solle abgezogen werden. "Die USA stellen ein ganz wesentliches Kontingent für diesen Einsatz. Sie stellen den Kommandeur. Sie bilden das Rückgrat des internationalen Engagements in Afghanistan. Das ist ein wirklich unverzichtbarer Partner", sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums. SZ

Dass im Falle einer türkischen Invasion jedoch alle gegen den IS kämpfenden Kräfte ihre Stellungen verlassen und an die neue Front eilen würden, daran lassen kurdische Politiker keine Zweifel. Meldungen, dass die Führung der sogenannten Demokratischen Föderation Nordsyrien sogar überlege, Camps aufzulösen, in denen man derzeit fast 1100 frühere IS-Kämpfer und etwa 2000 Angehörige gefangen hält, dementieren kurdische Offizielle. Die New York Times zitiert jedoch einen westlichen Mitarbeiter der Anti-IS-Koalition, der solche Diskussionen mitbekommen haben will. Wenn diese Gefangenen freikämen, wäre dies "eine ernst zu nehmende Bedrohung für Europa", zitiert die Zeitung den anonymen Offiziellen.

Der US-Präsident sieht die Türkei offenbar als künftiges Bollwerk gegen Dschihadisten

Der US-Präsident selbst sieht offenbar die Türkei als künftiges Bollwerk gegen die Dschihadisten. Wenn stimmt, was die türkische Zeitung Hürriyet am Freitag schreibt, soll Trump vergangene Woche bei einem Telefonat den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gefragt haben, ob sein Land den restlichen Kampf gegen den IS führen könne, falls die USA ihre Truppen aus Syrien abzögen. Erdoğan sagte daraufhin laut Hürriyet, die Türkei sei dazu bereit. In diesem Moment habe Trump völlig unerwartet, ohne das Telefonat mit Erdoğan zu unterbrechen, seinen Sicherheitsberater John Bolton angewiesen, mit dem Rückzug zu beginnen.

Wie konkret die Pläne der Türkei für eine Offensive sind, ist unklar. Verteidigungsminister Hulusi Akar sprach von intensiven Vorbereitungen, Erdoğan selbst sagte am Freitag, ein Telefonat mit Trump habe ihn dazu bewogen, noch "eine Weile zu warten". Die meist gut informierte Onlinezeitung Duvar berichtete von einem anderen Vorstoß: Die Türkei habe angeboten, auf die Operation zu verzichten, sollten sich die kurdischen Milizen zehn bis 30 Kilometer von der Grenze zurückziehen.

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