Syrien und Irak:Was vom "Islamischen Staat" übrig bleibt

Syrien und Irak: In der Trümmerwüste: Ein Kämpfer der Syrischen Demokratischen Kräfte blickt in das zerstörte Raqqa. Nun müssen sie Landminen entfernen und die Straßen räumen.

In der Trümmerwüste: Ein Kämpfer der Syrischen Demokratischen Kräfte blickt in das zerstörte Raqqa. Nun müssen sie Landminen entfernen und die Straßen räumen.

(Foto: Bulent Kilic/AFP)
  • Nach mehr als drei Jahren ist Raqqa aus den Händen der Terrormiliz "Islamischer Staat" zurückerobert.
  • Das protostaatliche Projekt der Dschihadisten ist damit am Ende - doch besiegt sind sie längst nicht.
  • Gezielt bringen sie Köpfe der mittleren Führungsetage außer Landes und rufen Unterstützer dazu auf, Anschläge zu begehen.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Drei Jahre und dreieinhalb Monate hat das Kalifat überdauert, das der Emir des "Islamischen Staates", Abu Bakr al-Baghdadi, am ersten Tag des Ramadan des Jahres 1435 islamischer Zeitrechnung in der Großen al-Nuri-Moschee von Mossul ausgerufen hatte. Es war der 29. Juni 2014. Am Dienstag eroberten die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), ein Bündnis aus kurdischen, sunnitisch-arabischen und assyrischen Milizen, das zur Hauptstadt deklarierte syrische Raqqa zurück. Im Sommer hatte die Terrormiliz Mossul verloren, ihr wichtigstes Zentrum.

Damit findet nun mindestens symbolisch das protostaatliche Projekt des Islamischen Staats ein Ende - der in der Hochphase wie eine moderne Armee im Sturm Gebiete so groß wie Jordanien eroberte. Der eine akribische Verwaltung unterhielt, Steuern eintrieb, Dienstleistungen für Untertanen erbrachte, zumindest jene, die sich den strikten Regeln des IS unterwarfen. Und Zehntausende Anhänger aus aller Welt für seinen Dschihad rekrutieren konnte. Davon ist kaum etwas geblieben.

In der Schlacht, die nach viereinhalb Monaten zur Befreiung Raqqas führte, hat die Terrormiliz nach US-Angaben bis zu 6000 Kämpfer verloren, allein 1000 in der Stadt. Das IS-Territorium ist seit der größten Ausdehnung im Frühjahr 2015 um 87 Prozent geschrumpft. Doch die Gruppe ist nicht besiegt. Vielmehr verwandelt sie sich gerade wieder in das zurück, was sie vor ihrem Aufstieg war: eine Terror-Organisation, die einen regionalen Guerilla-Krieg führt und im Verborgenen überlebt. Was das für ihre Fähigkeiten für künftige Anschläge im Westen und auch anderen Teilen der Welt bedeutet, ist eine der großen Fragen.

Der IS hat viele Stämme im Irak und in Syrien systematisch unterwandert

Laut westlichen Geheimdiensten haben sich 6500 bis 8000 IS-Kämpfer in das Euphrat-Tal zurückgezogen, unter ihnen die überlebenden Kader der Organisation und eine erhebliche Zahl ausländischer Kämpfer. Der harte Kern des IS. Sie halten noch Teile der Provinzhauptstadt Deir al-Sour und al-Mayadin, die beide von syrischen Truppen und von Iran kontrollierten Schiiten-Milizen belagert werden, unterstützt von der russischen Luftwaffe. Ebenso kontrolliert der IS Gebiete den Fluss hinab über al-Bukamal bis nach al-Qaim auf irakischer Seite. Das Euphrat-Tal grenzt an eine große Wüste, die bis weit hinein in Iraks Sunniten-Provinz Anbar reicht. Beide Regionen bieten viele Verstecke, beide sind zudem sunnitische Stammesgebiete.

Der IS hat die Stämme systematisch unterwandert und findet bei ihnen noch Rückhalt - solange es den Stammesleuten an Alternativen fehlt. Zugleich könnten die sunnitisch-arabischen Teile der SDF dort ähnliche Deals schließen, wie in Raqqa, wo die lokalen IS-Kämpfer abziehen durften. Die syrischen Sunniten auf beiden Seiten der Front verbindet, dass sie nicht vom Assad-Regime überrannt werden wollen.

Die einst straff zentralistischen militärischen Befehlsstrukturen des IS funktionieren nicht mehr, sagen die Geheimdienste, er agiert nicht mehr wie eine Armee. Regionale Kommandeure befehligen jeweils einige Hundert Kämpfer. Das begünstigt Arrangements wie in Raqqa. Zumal die Alternative klar ist: Die Reste der Terrormiliz sollen in einer finalen Schlacht zerschlagen werden, die nach US-Operationsplanung bis Ende 2018 dauern könnte. Zwar konkurrieren die von den USA unterstützten SDF mit syrisch-iranischen Verbänden, wer wo diesen Kampf führt - dahinter steht ein geopolitisch motivierter Wettlauf um die Kontrolle der syrischen Grenzen. Aber eine dieser beiden Allianzen wird ins Euphrat-Tal vorstoßen, wo Luftangriffe weniger Wirkung entfalten. Das alles weiß der IS, und er hat dafür geplant.

Die ideologische Anziehungskraft bleibt erhalten

Den Ausländern in seinen Reihen wird mehrheitlich nichts bleiben, als zu kämpfen. Seit Monaten aber beobachten die Geheimdienste, dass der IS versucht, Personal der mittleren Ebene mit für ihn wertvollen Kenntnissen, etwa im Bau von Bomben oder chemischen Waffen, durch unübersichtliche Kampfgebiete wie Idlib außer Landes zu schmuggeln. Aus Raqqa hatte er seine Kader schon vor Monaten herausgebracht, und mit ihnen Pläne für das weitere militärische Vorgehen, die Zukunft der Organisation - und womöglich Anschläge.

"Für 3000 bis 5000 Dollar pro Person ist es möglich, aus IS-kontrollierten Gebieten Syriens in die Türkei oder in die Kurden-Gebiete im Irak zu gelangen", sagt Columb Strack, leitender Nahost-Analyst der Beratungsfirma IHS. "Von dort kann man mit einem gefälschten Pass fast überall hin kommen." Die mutmaßlichen Ziele der IS-Leute: Libyen und Länder in der Sahel-Zone. Mali, Niger, Tschad, alle gekennzeichnet von Staatszerfall, gesetzlosen Gegenden.

Für die Führungsspitze des IS ist das zu riskant: US-Kommandoeinheiten machen Jagd auf sie, Drohnen der Amerikaner und ebenso der Russen. Den Kalifen zu finden wäre der größte Preis, noch immer; westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass er lebt. Sie werden versuchen, in der Wüste abzutauchen, wie es gerade einmal noch 700 Kämpfern der Vorgängerorganisation des IS, al-Qaida im Irak, gelungen war, nachdem die USA sie zusammen mit sunnitischen Stammeskämpfern 2008 militärisch weitgehend besiegt hatten. Für die Iraker, die wichtigsten Kader, ist sie vertrautes Terrain - sie können warten. Wenn es nicht zu einer Stabilisierung Iraks und Syriens kommt, sich die Lage der Sunniten nicht grundlegend bessert, wird sich ihnen eine neue Gelegenheit bieten. Bis dahin können sie mit Anschlägen etwa in Bagdad eben jede Stabilisierung torpedieren.

Filialen und Schläferzellen könnten aktiviert werden

Überdies hat der IS trotz seiner Niederlagen (noch) nicht die ideologische Anziehungskraft eingebüßt, noch funktioniert die Propaganda leidlich. Sie hat eine Audio-Botschaft des Kalifen veröffentlich, in der Baghdadi die Verluste zur göttlichen Prüfung erklärt und die Mudschahedin aufruft weiterzukämpfen. Sie sollten Anschläge begehen in "Amerika, Europa und Russland, die im Zustand des Terrors leben".

Zwar haben die Geheimdienste seit den Anschlägen in Brüssel im März 2016 keine Attacken mehr registriert, die von der Abteilung für externe Operationen des IS orchestriert wurden - wohl aber Kontakte zwischen Attentätern und IS-Mitgliedern. Es gibt die Befürchtung, das Schläferzellen aktiviert werden könnten oder sich Einzeltäter zu Attacken inspirieren lassen.

Überdies gibt es etliche Filialen des IS außerhalb seiner Kerngebiete. In Afghanistan macht er den Taliban Konkurrenz, in Ägypten liefert er dem Militär im Nordsinai eine verlustreiche Schlacht und hat einen russischen Ferienflieger aus dem Himmel gebombt. In Libyen reorganisieren sich Hunderte seiner Kämpfer im Süden, wenn auch ohne Anbindung nach Syrien. In Nigeria, auf den Philippinen, in Jemen Tunesien, Saudi-Arabien, in der Türkei, im russischen Kaukasus: Überall gibt es Dschihadisten, die sich dem IS zurechnen. Sie verüben bislang vor allem Anschläge in ihren Ländern. Manche von ihnen könnten sich aber auch gegen westliche Ziele richten. Aus der Sicht des IS wäre das der Beleg, dass die Organisation mitnichten besiegt ist.

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