Das Ende des fast 14 Jahre währenden Bürgerkrieges, die Flucht Assads und der Rückzug von Iran und Russland aus der Region hinterlassen ein Machtvakuum – und die Türkei möchte es gern füllen. „Die Türkei ist der größte Gewinner des Umsturzes in Syrien“, sagt die Türkei-Expertin Aslı Aydıntaşbaş aus Istanbul. „Sie ist jetzt der wichtigste Akteur in Syrien und wird enormen Einfluss in der Region haben.“
Offenbar gibt es dafür schon konkrete Ansätze: So erwähnte der türkische Energieminister Alparslan Bayraktar unmittelbar nach dem Sturz Assads die mögliche Wiederaufnahme eines katarisch-türkischen Pipeline-Projektes, das bereits 2009 auf der Agenda stand. Verschiedene Medien hatten damals von einem Abkommen zwischen der Türkei und Katar berichtet. Demnach sollte eine Erdgas-Pipeline entstehen, die von den katarischen Gasfeldern im Persischen Golf über Saudi-Arabien, Jordanien und Syrien bis in die Türkei laufen sollte.
In der Türkei sollte sie dann mit der – damals geplanten, aber nie gebauten – Nabucco-Pipeline verbunden werden und sowohl die Türkei als auch den europäischen Markt beliefern. Damit hätte man Russland umgangen und dem Land, dessen Gas die Europäer damals noch mit weniger Bedenken und in rohen Mengen kauften, Konkurrenz gemacht. Der syrische Diktator Assad soll die Pipeline damals abgelehnt haben – aus Loyalität zu Wladimir Putin. Außerdem hatte er wohl andere Pläne: Assad wollte das Gas seines Verbündeten Irans nutzen und dieses in einer geplanten zehn Milliarden Dollar teuren Pipeline über den Irak nach Syrien bringen. 2011 unterschrieb er mit beiden Ländern erste Abkommen dazu. Diese geplante Pipeline wäre eine Alternative zur türkisch-katarischen Pipeline gewesen. Doch gebaut wurde sie nie.
„Im geostrategischen Interesse Katars“
Auch deshalb steht die Pipeline im Mittelpunkt mancher Verschwörungserzählungen. Einige wollen in Assads Unwillen, die türkisch-katarische Pipeline zu bauen, den Grund dafür sehen, warum sich die Türkei und Katar in den Krieg gegen das Assad -Regime einmischten. Demnach hätten sie den Diktator allein deshalb stürzen wollen, um ihre Pipeline zu bekommen. Diese „Pipeline-Theorie“ passt gut in die Erzählweise vom „Krieg um Öl und Gas“ und war einige Jahre nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges weitverbreitet. Nahostexperten halten allerdings wenig davon. Für Eckart Wörtz, den Direktor des Giga-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg, waren die Pipeline-Pläne damals viel zu unkonkret, um einen Krieg auszulösen. „Es gibt bei Verschwörungstheorien eine Neigung, Pipelines als Kriegsursache anzuführen“, sagt er.
Außerdem sei Syrien damals gar nicht das Hauptproblem einer solchen Pipeline gewesen – sondern die Saudis. „Damals hatte Saudi-Arabien keine Lust drauf“, sagt Wörtz. Die beiden konkurrierenden Mächte Saudi-Arabien und Katar verbindet eine lange Geschichte des Misstrauens. 2017 bis 2021 kam es sogar zu einer regelrechten Blockade, da Riad dem Nachbarn vorwarf, Extremisten wie die Muslimbruderschaft, al-Qaida und den IS zu unterstützen. Da sich beide Golfstaaten aber wieder angenähert haben, scheint eine Pipeline realistischer geworden zu sein.
Thomas Volk, Leiter der Abteilung Naher Osten und Nordafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung, hält die Wiederaufnahme der Pipeline-Idee für möglich. Neben der Türkei könnte auch Katar daran interessiert sein: „Katar will sowohl Vermittler in der Region sein als auch wichtigster Gasexporteur“, sagt Volk. „Die Pipeline wäre also im geostrategischen Interesse Katars.“
Hohes geopolitisches Risiko
Der Golfstaat hat durch seine Flüssigerdgas-Lieferungen (LNG) bereits einen Fuß auf dem europäischen Markt. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und der Abkehr von fossilen Brennstoffen aus Russland versucht Europa, seine Energiezufuhr zu diversifizieren. Der LNG-Anteil am Erdgasimport ist in Ländern wie Deutschland allerdings noch gering. Auch ist der Transport von LNG teurer als der von Gas durch Pipelines. Diese aber bergen ein hohes geopolitisches Risiko. „Eine Pipeline kann man nicht einfach umlenken, wenn man sich verstreitet“, sagt Wörtz, „einen Tanker schon.“ Er hält den Bau der Pipeline daher für unwahrscheinlich. Besonders, weil die Europäer keine langjährigen Verträge machen wollen. „Und es bleibt ein erhebliches Fragezeichen, was die politische Stabilität Syriens betrifft.“
Trotzdem scheint die Türkei das Projekt vorantreiben zu wollen. Schon 2010 hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan – damals noch türkischer Premierminister – für die Pipeline geworben. Heute klingt sein Energieminister ähnlich: „Dies könnte eine immense Chance sein“, sagte Bayraktar laut der türkischen Zeitung Hürriyet Daily News. Zunächst müsse Syrien aber seine Integrität und Stabilität wieder erlangen. Auch dabei will die Türkei helfen. Am Samstag eröffnete sie als erstes Land wieder eine Botschaft in Syrien – nach zwölf Jahren.
Was würde diese Pipeline für die Beziehung zwischen Erdoğan und Putin bedeuten? Die beiden Staatsmänner bezeichnen sich regelmäßig als „gute Freunde“. Die Türkei bezieht noch immer viel Erdgas aus Russland – und vermittelt zwischen den Kriegsparteien in der Ukraine. Auch deshalb hat Russland kein Interesse an Alternativen zum eigenen Erdgas. Nahostexperte Volk befürchtet, dass die Russen deshalb den möglichen Bau einer türkisch-katarischen Pipeline verhindern wollen würden.
„Die arabischen Akteure nehmen Russland zunehmend nicht mehr als Partner ernst.“
Der Fall Assads, Russlands Protegés und wichtigsten Verbündeten in der Region, sowie der drohende Verlust der sowjetischen Militärstützpunkte in Syrien treffen Putin schwer. „Jetzt ist Russland aus dem Spiel“, sagt Wörtz. Damit verändern sich auch die Machtverhältnisse im Nahen Osten. „Die arabischen Akteure nehmen Russland zunehmend nicht mehr als Partner ernst“, fügt Volk hinzu. Vor allem die herbe Niederlage in Syrien mache Russland gefährlich. Im Falle einer Umsetzung der Pipeline-Pläne hält er sogar russische Sabotageakte für möglich: „Das ist Russland auf jeden Fall zuzutrauen. Vor allem, wenn es in die Ecke gedrängt ist.“
Ob die Pipeline auch von katarischer Seite wieder anvisiert wird und ob die Entwicklungen in Syrien einen zukünftigen Bau überhaupt zulassen, ist noch ungewiss. Sicher ist jedoch, dass die Türkei ihre Macht in der Region weiter ausbauen will – auch mit solchen Großprojekten. Über Jahre hat sie sich zum Transithub von Pipelines und Energielieferungen etabliert. Aus allen Richtungen strömen Öl und Erdgas durch das Land, auch nach Europa. Das macht die Türkei zu einem wichtigen Player in der europäischen Energiepolitik. „Das ist ein geopolitisches Poker. Wenn Europa sich Gedanken über alternative südliche Gaslieferungen macht, sitzt jedes Mal die Türkei in der Mitte“, sagt Nahostexperte Wörtz. „Wie ein König.“
Diese Abhängigkeit von der türkischen Energiepolitik reiht sich ein in bestehende Abhängigkeiten im Bereich Migrations- und Sicherheitspolitik. Und sie birgt Gefahren. In der Vergangenheit hat die Türkei ihre geopolitische Lage schon für sich zu nutzen gewusst. Als die EU 2019 Erdoğans Militäroffensive gegen die Kurden im Norden Syriens kritisierte, drohte er damit, 3,6 Millionen Flüchtlinge in Richtung Europa zu schicken, wenn diese die Vorwürfe nicht zurücknähme.
Obwohl eine Vormachtstellung der Türkei und energiepolitische Projekte wie eine türkisch-katarische Pipeline weitere Abhängigkeiten schaffen würde und Europa dadurch noch erpressbarer machen könnten, kommt der Nahostexperte Volk zu einem klaren Urteil. „Die Türkei ist ein geostrategischer Partner und immer noch verlässlicher als Russland.“