Syrien:Torheit in der Luft

Russland und die Türkei müssen dringend deeskalieren. Doch Vernunft und Mäßigung waren bisher keine Tugenden ihrer Syrien-Politik.

Kommentar von Stefan Kornelius

Russland und die Türkei haben nun die Wahl: Sie können ihren Konflikt weiter verschärfen - verbal, politisch, militärisch gar. Oder sie lassen Vernunft walten. Vernunft ist allerdings bei diesen beiden Akteuren eine nicht besonders verbreitete Tugend. Die Vernunft hätte beide Seiten längst lehren sollen, dass sie ein paar Sicherungen einbauen müssen für ihre Syrien-Abenteuer.

Der Abschuss eines Flugzeuges war seit Wochen prophezeit worden, überraschen kann in diesem Krieg nur noch wenig. Wem es an Fantasie fehlt: Denkbar ist außerdem die Lieferung von Luftabwehrraketen, die in große Höhen reichen. Aufgetaucht sind sie bisher nicht, zu haben sind sie. Denkbar ist eine zufällige Kollision zweier Kampfflugzeuge in der Luft. Denkbar ist einfach alles in einem Kriegstheater, in dem einige Großmächte, hochpotente Regionalmächte, Stellvertreter-Armeen, Milizen und Terroristengruppen mitmischen, die mit nahezu allem ausgestattet sind, was explodiert.

Ob der russische Jet türkischen Luftraum verletzt hat, ob er dort oder über syrischem Gebiet abgeschossen wurde, ist fast schon zweitrangig. Der Abschussgrund liegt tiefer. Russland bombardiert seit Tagen die Turkmenen-Dörfer in der Nähe der türkischen Grenze. Die Turkmenen sind nicht nur die Schutzbefohlenen Ankaras, sie sind Verbündete in der Assad-Opposition und kontrollieren wichtige Nachschubwege. Russland nimmt sie deswegen ins Visier.

So lässt sich vergleichsweise billig der Spielraum für die Assad-Streitkräfte vergrößern und die Verhandlungsposition des Regimes verbessern für die anstehenden Friedensgespräche. Die Türkei hat diese Waffenhilfe seit Tagen massiv kritisiert, auch weil die Bombardements neue Flüchtlingsströme in die Türkei getrieben haben.

Logik der Bodentruppen

Es wird deswegen keinen guten Willen geben, die Eskalation zu bremsen. Der Abschuss und die Gesprächsunfähigkeit stehen ja für das eigentliche Problem im Syrienkrieg, das einen Verhandlungsfrieden fast unmöglich macht: Solange das politische Muster einer Nachkriegsordnung nicht zu erkennen ist, wird weiter gekämpft werden.

Nach der vorherrschenden Logik wird sich nur mit Truppen am Boden die Frage beantworten lassen, wer die Macht in Händen halten wird, wenn es Syriens Diktator Baschar al-Assad einst nicht mehr geben und der IS in Grund und Boden gebombt sein sollte. Diese Logik hat sich nun einmal mehr bestätigt.

Gefahr, dass der Krieg außer Kontrolle gerät

Präsident Wladimir Putin hat am Montag in Teheran seine Vorstellung von der Nachkriegsordnung zu Protokoll gegeben. Da saß der russische Neo-Zar brav neben einem Dolmetscher auf einem Sofa und blickte zu Ayatollah Ali Chamenei auf, dem obersten Führer Irans. Russland ordnet sich Iran unter, weil Iran eine Vormacht am Boden garantieren wird.

Die russisch-iranische Allianz will Assad oder ein ähnlich gestricktes Nachfolgeregime in der Hauptrolle. Andernfalls wird es keinen Frieden und kein Bündnis gegen den IS geben. Für Putin heißt die Reihenfolge: Assad stärken, Opposition schwächen, und erst dann gemeinsam den IS bekämpfen.

Hollandes Ansinnen - vorzeitig beantwortet

Für die Türkei lautet die Formel indes: Assad beseitigen, den Kurden Vorteile verwehren, die gemäßigte Opposition stärken - die Bodentruppen für die Durchsetzung türkischer Interessen. Putin lässt seine Luftwaffe offensiv gegen diese Interessen kämpfen. Seit seinem Kriegseintritt spielt Russland ein doppeltes Spiel. Dem Westen versichert der Präsident, dass er den IS bekämpfen werde. Faktisch fliegt die Luftwaffe vor allem Angriffe auf die Assad-Opposition.

Diese Einsatztaktik hat sich in den letzten Tagen ein wenig verschoben. Die Anschläge in Paris und die Bombe gegen die russischen Ägypten-Touristen haben auch die Moskauer Politik verändert. Frankreichs Präsident François Hollande wollte sich in dieser Woche in Moskau vergewissern, dass der Schwenk in Richtung IS als Kriegsfeind Nummer eins ernst gemeint ist. Putin hat mit dem fortgesetzten Bombardement auf die Turkmenen die Antwort schon jetzt gegeben. Ob die türkische Reaktion darauf klug war, steht auf einem anderen Blatt.

Noch nie war die Gefahr so groß, dass der Krieg vollends außer Kontrolle gerät und Nachbarn und Patronatsmächte hineinzieht ins Gemetzel wie in einen Strudel. Eine Führungsfigur aus dem Lager der Opposition oder dem Assad-Regime ist nicht in Sicht, auf die sich die großen Kriegsparteien für eine Interimsführung einigen könnten.

Die Wiener Friedensgespräche werden durch den Abschuss weit zurückgeworfen. Und ein verzweifelter französischer Präsident wird anderthalb Wochen nach Paris zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich der Niedergang noch immer beschleunigen lässt.

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