Süddeutsche Zeitung

Syrien-Protokolle:"Von der gesamten Menschheit enttäuscht"

Seit die USA den IS in Syrien bekämpfen, ist das Bürgerkriegsland wieder in den Fokus gerückt. Was denken Syrer über die Luftangriffe? Und wie sieht ihr Leben jenseits der IS-Bedrohung aus? Vier Syrer erzählen.

Von Violetta Hagen

Serbest Schvan*, 31, Elektriker aus der kurdischen Stadt Qamischli

"Seit der IS kurz vor der kurdischen Stadt Kobanê steht, sehe ich in den Augen der Menschen blanke Angst. Jeder hier weiß - wenn Kobanê fällt, dann kann der IS die kurdischen Gebiete einfach überrennen. Qamischli wird von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten kontrolliert, aber kleinere Teile sind noch in der Hand des Regimes. Gleichzeitig wird die Stadt von östlicher Seite vom IS belagert. Wir müssen gegen mehrere Gegner an mehreren Fronten kämpfen, und das erschöpft uns sehr. Die Sicherheitslage ist sehr schlecht.

Aufgrund der Belagerung gibt es in Qamischli nicht mehr ausreichend Lebensmittel. Manchmal reicht es nur für zwei Mahlzeiten am Tag, und wir haben seit mehr als einem Monat kein Fleisch gegessen. Medikamente gibt es fast keine mehr. Ich gehe nicht mehr täglich zur Arbeit wie früher. Meine drei Kinder behalte ich zu Hause - die Lage ist zu gefährlich geworden, um sie in die Schule zu schicken. Ich versuche so gut es geht, das Leid des Krieges von ihnen fernzuhalten. Aber ich habe selbst so große Angst um sie, wie noch nie in meinem Leben.

Die Luftschläge der Amerikaner und ihrer Koalition helfen uns hier nicht. Sie konzentrieren sich auf den Irak und IS-Hochburgen wie Rakka. Sie müssten viel mehr tun, um Kobanê vor dem Fall zu bewahren. Sind wir Kurden in Syrien weniger wert als die Kurden und Araber im Irak? Es interessiert offenbar niemanden, wenn der IS uns alle tötet.

Was das größte Problem hier ist, fragst du mich? Alles hier ist ein Problem, das Leben selbst ist zum Problem geworden. Es sieht aus, als wäre der Tod die einzige Lösung unserer Probleme.

Vom Westen bin ich weniger enttäuscht. Niemand ist gezwungen, Fremden zu helfen - das ist die bittere Wahrheit. Aber von den Arabern in unserer Gegend bin ich sehr enttäuscht. Wir haben so viele Jahre miteinander gelebt, und als die Revolution ausbrach, haben wir den Flüchtlingen aus Homs und Aleppo unsere Häuser geöffnet. Aber bei der ersten Gelegenheit sind die Araber aus unserer Gegend zum IS übergelaufen - sogar mein Nachbar, der schon oft zu Gast in meinem Haus war. Ich vertraue keinem Araber mehr. Auch den sogenannten Rebellen nicht - sie sind nicht besser als Assad und seine Schergen. Ich vertraue nur noch meinen kurdischen Brüdern.

Wenn ich an die Zeit vor dem Krieg denke, dann fehlen mir vor allem meine Familie und meine Freunde. Ich denke daran, wie wir in meinem Heimatort zusammensaßen, wie wir den ganzen Abend lang Tee tranken und uns unterhielten.

Wie Syrien in zwanzig Jahren aussehen wird? Ich denke, wenn niemand von außen eingreift, wird es sich in ein zweites Somalia verwandeln."

"Ich wohne in einem recht sicheren Viertel von Damaskus, das vom Regime kontrolliert wird. Hier wohnen viele Angehörige des Regimes und Alawiten. Es gibt nur noch wenige Orte in Damaskus, die so sicher sind. Vor Kurzem herrschte etwa in Abbassin, einem Viertel von Damaskus, reinster Krieg. Wir waren auf dem Weg nach Hause und haben gesehen, wie eine große Zahl von Raketen auf das Viertel niederging. Es war ein fürchterlicher Anblick.

Ich gehe fast jeden Tag zur Arbeit. Ich arbeite in der Verwaltung einer städtischen Bibliothek. Meine drei Kinder gehen noch jeden Tag zur Schule. Meine größte Sorge im Alltag ist die Sicherheit. Auch in dem Viertel, in dem wir leben, und auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule können wir jeden Tag bei einem Raketenangriff sterben. Ich erinnere mich noch gut daran, wie eines Tages eine Autobombe in unserem Viertel explodierte. Der Heimweg meiner Kinder verlief in der Nähe des Explosionsortes. Als ich davon hörte, habe ich angefangen wie von Sinnen zu schreien. Ich habe geschrien, bis ich sie von weitem auf der Straße kommen sah.

Einige Viertel von Damaskus werden von der Freien Syrischen Armee kontrolliert, andere von der Nusra-Front oder dem IS. Die Anhänger des IS sind Verbrecher und Bestien - wer kann Menschen auf so eine barbarische Weise töten? Den gemäßigten Rebellen vertraue ich auch nicht, sie haben alle versagt. Viele von ihnen sind aus Syrien geflohen. Wer uns verteidigen will, muss aber hier bei uns sein.

Auch wenn ich die Luftangriffe gegen den IS gut finde, weiß ich, dass der Westen in Syrien nur seine eigenen Interessen verfolgt. Unser tägliches Leid ist den Menschen dort egal. Im Verlauf der vergangenen Jahre haben sie nichts für uns getan - wegen ihrer Untätigkeit sind wir dem IS und der Nusra-Front überhaupt ausgesetzt. Eigentlich setze ich gar keine Hoffnungen mehr in den Westen, so dass ich auch nicht mehr enttäuscht werden kann.

Der Kampf gegen Assad war im Rückblick ein großer Fehler. Ich habe zu Beginn an die Ziele der Demonstranten geglaubt, aber die Rebellen hatten keinen richtigen Plan. Deshalb sind viele Unschuldige gestorben, und wir leiden noch immer darunter. Assad hat hier immer noch viele Unterstützer. Ich denke, er hat viele schlechte Berater um sich, die ihn von der Realität in seinem Land abschirmen. Er ist auch aus der Berichterstattung verschwunden.

Ich informiere mich über das Fernsehen und über einige Webseiten. Die syrischen Sender verkürzen die Nachrichten sehr, manches lassen sie ganz weg. Dann versuchen wir, diese Nachrichten über andere Kanäle zu bekommen. Aber wir haben uns in den vergangenen zwei Jahren verändert. Die Leute erwarten weniger Informationen als früher. Wir haben resigniert.

Wer den Bürgerkrieg gewinnen wird? Das ist eine Frage, über die ich eigentlich nur lachen kann. Wir wissen es selbst nicht. Wenn die eine Seite gewinnt, ist das ein großes Unglück. Wenn die andere Seite gewinnt, ein noch größeres. Wir wünschen uns eigentlich nur, dass alles wieder so ist, wie früher. Am meisten sorge ich mich um meine drei Kinder. Sie haben in diesem Land keine Zukunft mehr."

"Ich lebe in einer kleinen Stadt zwischen Homs und Tartus. Dieses Gebiet wird von der Regierung kontrolliert, und die meisten Menschen hier sind Alawiten wie ich. Es ist sicher hier, und die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten ist gut. Der IS kämpft weit weg von hier und ich kenne nur die Bilder aus dem Fernsehen und die Geschichten der Kämpfer von der Front.

Der IS wurde meiner Meinung nach so stark, weil er von außerhalb Syriens viel Unterstützung erhält. Jetzt ist er so mächtig geworden, dass er auch den Westen bedroht, deswegen interessieren sich plötzlich alle für ihn. Es ist klar, dass der Westen immer nur seine eigenen Interessen und nicht unser Wohl verfolgt. Trotzdem bin ich froh über die Luftschläge, denn die Anhänger des IS kennen keine Moral und Menschlichkeit. Ich hoffe sehr, dass die USA bald auch die anderen Terroristen bombardieren, die unser Land destabilisieren. Ich vertraute auch keiner der anderen Rebellengruppen - sie jagen alle nur Geld und Macht hinterher. Die menschliche Tragödie des syrischen Volks ist ihnen egal.

Baschar al-Assad ist Alawit wie ich. Wir Alawiten sind normale syrische Bürger. Die meisten von uns leben in einer bergigen und unwirtlichen Gegend Syriens, in die kaum wirtschaftlich investiert wurde. Ich denke, diese Unterentwicklung gehört zum Kalkül des Regimes, damit wir unsere jungen Männer in die Armee und den Sicherheitsdienst schicken müssen.

Wir werden Jahre brauchen, bis wir unser Land wieder lieben können. Bis wir einander wieder vertrauen können und bis wir einander nicht mehr anhand unserer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit verurteilen. Im Moment verbreiten sich hier nur Egoismus und radikale Gedanken."

"Das Viertel, in dem ich lebe, wird von der Freien Syrischen Armee kontrolliert. Die Sicherheitslage hier ist sehr schlecht, aber wo in Syrien kann man sich noch sicher fühlen?

Es gibt noch genug Nahrungsmittel in unserer Gegend, aber die Preise sind sehr stark gestiegen. Es gibt fast keine Medikamente mehr, und alle Fachärzte haben die Stadt verlassen.

Ich unterstütze keine der Rebellengruppen hier. Das sind keine echten Rebellen, sondern Diebe und Banditen. Niemand wird diesen Krieg gewinnen, alle werden verlieren, denn es gibt keine Gewinner im Krieg. Die Menschen haben sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Sie sind schlechter und egoistischer geworden und bringen es fertig, andere Menschen einfach für ihre Interessen zu töten.

Der IS ist aus meiner Sicht nicht anders als die Regierung und die Alawiten - sie haben dieselbe Mentalität und Brutalität. Der einzige Unterschied ist, dass der IS sein Tun religiös begründet. Der IS ist noch nicht nach Aleppo vorgedrungen - er kämpft in Orten außerhalb der Stadt. Die Luftschläge der Amerikaner gegen den IS befürworte ich, soweit es uns hier hilft. Aber es ist völlig klar, dass der Westen dabei nicht an uns denkt - sie tun das, weil sie den IS fürchten. Wenn der Westen uns helfen wollte, warum ist Assad, der uns täglich tötet, noch an der Macht? Der Westen hätte diesen Krieg schon lange beenden müssen. Ich bin von der gesamten Menschheit enttäuscht.

In zwanzig Jahren ist Syrien hoffentlich ein Land ohne Unterdrückung. Wenn ich an das Leben vor dem Krieg denke, dann fehlt mir vor allem meine Familie. Meine zwei Kinder haben Syrien verlassen. Außerdem fehlt mir die Sicherheit. Ich habe nichts mehr zu tun in meinem Leben, außer zu warten."

* Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

Unsere Autorin Violetta Hagen studierte vor dem Ausbruch des Krieges ein halbes Jahr in Syrien. Rima Ibrahim* und ihre drei Kinder besuchte sie damals regelmäßig auf dem Nachhauseweg von ihrer Sprachschule. Den Kontakt zu den restlichen Befragten erhielt sie über einen syrischen Freund in Deutschland, der in seinem Freundeskreis herumfragte. Fast alle Bekannte Hagens haben das Land inzwischen verlassen.

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