Dass es zum ersten Mal so etwas wie Wahlen gab, war den Städten und Dörfern in Syrien nicht anzusehen. Es war ein Wahlkampf ohne viele Plakate, ohne große Reden und auch ohne Parteien. Und eine Wahl, die viele in Syrien gar nicht mitbekamen. Am Sonntag durften die 6000 Mitglieder der zuvor von der Regierung ernannten Wahlkomitees zur Abstimmung schreiten, und ihre Kreuzchen bei den 1578 zuvor von den Machthabern abgesegneten Kandidaten machen. Die wiederum zwei Drittel der 210 Parlamentssitze ausfüllen sollen. Den Rest bestimmt der selbst ernannte Präsident Ahmed al-Scharaa.
Wäre Syrien ein normales Land, würde man kaum von einer Wahl sprechen. Nach fünf Jahrzehnten der Assad-Diktatur empfanden viele Syrer die ersten Parlamentswahlen aber zumindest als einen kleinen Fortschritt. „Soweit ich bislang sehen kann, haben die indirekten Parlamentswahlen in Syrien wirklich ermutigende Ergebnisse in Bezug auf die lokale Vertretung gebracht“, sagte Charles Lister, ein Analyst des Middle East Institute. „Nach nur etwa neun Monaten des Übergangs, nach 13 Jahren Krieg und 53 Jahren Diktatur, ist dies ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.“
Nur zehn Sitze gehen an religiöse und ethnische Minderheiten, davon zwei an Christen
Sonderlich groß ist der Schritt aber auch nicht. Präsident al-Scharaa hatte in den vergangenen Monaten immer wieder betont, dass auch die Minderheiten der Drusen, Kurden und Alawiten ihren Platz im politischen System haben würden. Den Ergebnissen der Wahl zufolge sind sie aber eindeutig unterrepräsentiert: Insgesamt gingen nur zehn Sitze an religiöse und ethnische Minderheiten, darunter Kurden, Christen und Alawiten, die etwa ein Viertel der Bevölkerung stellen.
Was zum Teil daran lag, dass die kurdischen Gebiete im Nordosten und einige drusische Landesteile im Süden nicht unter staatlicher Kontrolle sind und dort gar nicht gewählt wurde. Dort soll die Wahl später nachgeholt werden. Aber auch in von Alawiten dominierten Gebieten wie Latakia wurden vor allem sunnitische Kandidaten gewählt, die 75 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Viele Sunniten werfen den Alawiten vor, unter dem Assad-Regime bevorzugt gewesen zu sein. Seit dem Fall von Baschar al-Assad im Dezember 2024 war es wiederholt zu Massakern an Alawiten gekommen.
Offen bleibt, ob es in den kommenden Jahren freiere Wahlen geben wird
Kritiker der Wahlen werfen Präsident al-Scharaa vor, seine von Männern und Sunniten geprägte Macht zementieren zu wollen, viele gewählte Kandidaten sollen aus seiner islamistischen Rebellengruppe HTS kommen. Seine Regierung hatte angekündigt, dass Frauen etwa 20 Prozent der Abgeordneten stellen sollen, gewählt wurden aber nur drei Prozent. Das ist sogar weniger als zu Zeiten der Assad-Diktatur. Für die Auswahl der Wahlleute galten zahlreiche Kriterien, es sollten Vertriebene und Menschen mit Beeinträchtigungen vertreten sein, Akademiker und sogenannte Stammesführer. Dennoch fühlen sich viele Gruppen nicht repräsentiert.

„Zu den größten Mängeln des Wahlprozesses gehörten die unbefriedigenden Ergebnisse hinsichtlich der Vertretung syrischer Frauen und die Tatsache, dass die Vertretung der Christen auf zwei Sitze beschränkt war, was im Verhältnis zur Anzahl der Christen in Syrien eine schwache Vertretung darstellt“, sagte Nawar Najma, Sprecher des Obersten Wahlkomitees Syriens. Er glaube, dass al-Scharaa versuchen werde, etwaige Mängel bei seiner eigenen Ernennung der verbleibenden 70 Mitglieder zu beheben. Wann das geschehen soll, ist unklar. Der Präsident selbst lobte die Wahlen als historischen Moment und sagte: „Syrien war in der Lage, innerhalb weniger Monate einen Wahlprozess durchzuführen, der den aktuellen Umständen angemessen ist.“
Offen bleibt, ob es in den kommenden Jahren freiere Wahlen geben wird. Al-Scharaa hatte die indirekten Wahlen damit begründet, dass es nach dem langen Bürgerkrieg keine verlässlichen Bevölkerungsdaten gebe. Millionen von Binnenflüchtlingen und Vertriebenen besäßen keine gültigen Ausweispapiere, weite Teile des Landes seien verwüstet, Treibstoff und Strom knapp und ganze Städte zerstört. Immer wieder kommt es auch zu Kämpfen, zuletzt in Aleppo am Tag der Bekanntgabe der Ergebnisse, als sich kurdische Kämpfer Gefechte mit den Milizen der Regierung lieferten, es gab mehrere Tote.
Syrien wird zudem massiv von den sunnitischen Golfstaaten unterstützt, die wenig Interesse an einem demokratischen System in ihrer Nachbarschaft haben. Menschenrechtler und Aktivisten des Kampfes gegen Assad fühlen sich an den Rand gedrängt. Viele Syrer sagen aber auch, dass eine stabile Sicherheitslage und die Ankurbelung der Wirtschaft für sie derzeit wichtiger seien als Demokratie.

