Syrien:Lieber Assad als die Türken

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Die Kurden in Syrien befürchten nach dem Abzug der US-amerikanischen Truppen eine Invasion aus dem Nachbarland - und diese Furcht ist nicht unbegründet.

Von Moritz Baumstieger, Luisa Seeling, Berlin/München

Im Norden Syriens stehen die Zeichen auf Eskalation. Die Türkei hat in den vergangenen Tagen ihre Truppen an der syrisch-türkischen Grenze verstärkt, zugleich rückt ein mit der Türkei alliiertes Bündnis syrischer Rebellen auf die Stadt Manbidsch westlich des Euphrat vor. Aus Süden bewegt sich eine weitere Kriegspartei auf die Stadt zu: Syrische Staatsmedien zeigten am Donnerstag Bilder von Assad-treuen Soldaten, die in langen Kolonnen in Richtung Front marschieren.

Berichten zufolge sollen die kurdischen Kräfte, die im Moment noch gemeinsam mit dem USA in Manbidsch patrouillieren, mit dem syrischen Regime über eine Übergabe ihrer Gebiete verhandeln - je nach Quelle finden die Gespräche in Damaskus oder Moskau statt, anderen Berichten zufolge werden in den kommenden Tagen ägyptische Diplomaten in Syrien erwartet, die zwischen den Kurden und Damaskus vermitteln sollen. Lieber eine neue Herrschaft von Baschar al-Assad als eine türkische Invasion, diese Stimmungslage aufseiten der Kurden wird in allen Berichten genannt. Wie weit die Verhandlungen jedoch fortgeschritten sein könnten, darüber gehen die Meldungen auseinander.

Dass die türkischen Drohungen ernst zu nehmen sind, daran besteht kein Zweifel: Schon vor Wochen hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan angekündigt, die syrische Kurdenmiliz YPG aus Manbidsch und dem Grenzgebiet vertreiben zu wollen. Als kürzlich US-Präsident Donald Trump überraschend den Abzug aller amerikanischer Soldaten aus Syrien bekannt gab, verschob Erdoğan die Offensive bis auf Weiteres. Nun aber erklärte Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, der Einmarsch stehe unmittelbar bevor.

Erdoğan will demnächst mit Trump und Putin über eine Neugestaltung Syriens sprechen

Seit Jahren versucht die Türkei, eine autonome oder teilautonome Kurdenregion an ihrer Grenze zu verhindern. In der Kurdenmiliz YPG sieht Ankara einen Ableger der kurdisch-separatistischen PKK - also eine Terrororganisation. Für die USA hingegen war die YPG in den vergangenen Jahren ein wichtiger Partner im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Nachdem die USA nun ihren kompletten Rückzug in Aussicht gestellt haben, sieht die Türkei ihre Chance gekommen. Dabei will sich Ankara eng mit den USA, aber auch mit Russland abstimmen. Erdoğan kündigte an, er wolle sich mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin treffen. Sein Präsidialamt teilte außerdem mit, man habe Donald Trump zum Staatsbesuch eingeladen. Bei den geplanten Begegnungen solle es um die Neugestaltung Syriens gehen. In Washington und Moskau fiel die Reaktion zunächst verhalten aus; es gebe keine konkreten Besuchspläne, hieß es.

Unklar ist, wann der US-Truppenabzug abgeschlossen sein wird und wann die türkische Offensive beginnen könnte. In türkischen Medien ist von 100 Tagen die Rede. Beobachter gehen davon aus, dass Erdoğan versuchen wird, noch vor der türkischen Kommunalwahl im März 2019 militärische Erfolge zu erzielen, um die Chancen seiner AKP zu verbessern. In regierungsnahen Medien gilt es als ausgemacht, dass sich Russland, die USA und die Türkei in der Syrien-Frage einigen werden; die Zeitung Sabah, die als Sprachrohr des Präsidentenpalasts gilt, spricht bereits von einer "Normalisierung" der Beziehungen zu den Amerikanern. Die Türkei, so eine Kolumnistin, werde ihren Einfluss in Syrien ausbauen - und sie sei überdies der einzige Akteur dort, der positive, starke Beziehungen zum Westen wie auch zu Moskau unterhalte. Der geplante Einmarsch in Nordostsyrien wäre nicht die erste Offensive der Türkei in dem Nachbarland. 2016 hatte Ankara im Rahmen der Operation "Schutzschild Euphrat" Bodentruppen über die Grenze geschickt. Im Januar dieses Jahres waren türkische Truppen in die nordsyrische Region Afrin einmarschiert, um dort die YPG zu bekämpfen.

Ein wissenschaftliches Gutachten des Bundestages, das von der Linksfraktion in Auftrag gegeben wurde, kommt zu der Auffassung, dass die Türkei in Syriens eine Besatzungsmacht ist. "Bei Lichte betrachtet erfüllt die türkische Militärpräsenz in der nordsyrischen Region Afrin sowie in der Region um Asas, al-Bab und Dscharablus im Norden Syriens völkerrechtlich alle Kriterien einer militärischen Besatzung", heißt es in der Expertise. Die Bundesregierung hat sich bisher nicht auf eine völkerrechtliche Einordnung der Afrin-Offensive festlegen wollen.

© SZ vom 28.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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