Syrien:Kinder des Krieges

Seit acht Jahren wird in Syrien geschossen und gebombt. Und Baschar al-Assad ist immer noch an der Macht. Hat er gewonnen? Über einen mörderischen Konflikt, an den sich die Welt gewöhnt hat.

Von Paul-Anton Krüger und Dunja Ramadan

Syrien: Krieg als Alltag: Ein Blindgänger steckt in der Straße in der umkämpften Stadt Idlib.

Krieg als Alltag: Ein Blindgänger steckt in der Straße in der umkämpften Stadt Idlib.

(Foto: Tim Alsiofi)

Rania Kisar war auf dem Weg in ihr Büro in Maarat al-Numan, einer Stadt mit 80 000 Einwohnern in der syrischen Provinz Idlib. Es war morgens kurz vor neun Uhr am 22. Juli, der Sommerhimmel blau und wolkenlos. Dann die Explosion auf dem Markt. Rania Kisar sieht, wie die Menschen laufen, sie laufen nicht weg, sondern hin zu dem Markt, sie wollen helfen. Wenig später fällt die nächste Bombe, mitten in die Menschentraube. Diesmal rennt auch Rania Kisar hin. "Du vergisst deinen eigenen Namen, wenn du all diese Toten siehst, all dieses Blut", sagt sie am Donnerstag am Telefon.

Als sie den Marktplatz erreicht, an dem jetzt nur noch Trümmer sind, schreit sie in die Kamera, die Fäuste geballt: "Bitte Amerika, tu etwas! Wir werden jeden Tag bombardiert. Wir werden jeden Tag getötet. Mister Trump! Bitte stoppen Sie das!" Ihre Stimme überschlägt sich, im Hintergrund werden Leichen weggetragen. Ähnliche Appelle hatte es schon gegeben, als der Präsident in Amerika noch Barack Obama hieß und viele Syrer noch hofften, dass ihnen der Westen beispringen würde wie 2011 den Revolutionären in Libyen, die sich gegen Muammar al-Gaddafi erhoben.

40 Menschen sterben an diesem Morgen. Das Auswärtige Amt in Berlin wird von "einem der schlimmsten Luftangriffe des syrischen Regimes und seiner Verbündeten auf von Zivilisten bevölkerte Gebiete" sprechen, seit das Regime von Präsident Baschar al-Assad und Russland Ende April eine Offensive begonnen haben gegen die letzte Bastion der Rebellen.

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Es riecht nicht mehr nach Gewürzen und Gemüse, sondern nach Sprengstoff: Ein Marktplatz in der Stadt Duma, kurz nach einem Bombenangriff mit vielen Toten.

(Foto: Tim Alsiofi)

Die Schlacht um Idlib könnte die letzte sein in diesem Krieg - aber auch die blutigste. Die Vereinten Nationen warnen vor der "schlimmsten humanitären Katastrophe des 21. Jahrhunderts".

Das Video von Rania Kisar verbreitet sich rasend schnell im Internet, CNN interviewt die Frau die da in den Trümmern stand, heiser, hilflos. Eine amerikanische Staatsbürgerin mit syrischen Wurzeln, die seit Beginn der Revolution in Syrien lebt, eine Aktivistin, die von sich selbst gesagt hat, sie wolle als Amerikanerin dem syrischen Volk als menschliches Schutzschild dienen. Seit 2015 hatte sie eine Hilfsorganisation geleitet, Essenspakete an alleinstehende Frauen verteilt und Computerschulungen organisiert. Die Leute in Idlib, der Provinz im Norden an der Grenze zur Türkei, nannten sie "Doktora", weil sie so gut Englisch sprach und studiert hatte.

Sie hat geholfen, die internationale Aufmerksamkeit wieder auf Syrien zu lenken, denn obwohl schon seit Ende April wieder Bomben fallen, "zuckt die Welt kollektiv mit der Schulter", wie es die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, formulierte. In Deutschland dreht sich die Debatte vor allem um die Syrer, die hierher gekommen sind. Für den Krieg, vor dem sie geflohen sind, interessiert sich kaum mehr jemand, auch wenn der gerade wieder heftig aufflammt.

Die UN haben seit dem Beginn der jüngsten Offensive in Idlib den Tod von mindestens 450 Zivilisten dokumentiert. 450 000 Menschen mussten vor den Kämpfen fliehen, ein Sechstel der Bevölkerung Idlibs. Sie suchen Zuflucht in ohnehin übervölkerten Gebieten nahe der geschlossenen Grenze zur Türkei. Viele müssen in Zelten übernachten oder ganz im Freien, geschützt allenfalls von Olivenbäumen.

Kaum zu glauben, dass Baschar al-Assad nach dem Tod seines Vaters Hafis im Juni 2000 lebhafte politische Diskussionen zuließ und seinem Volk Hoffnung auf Reformen machte. Doch der Damaszener Frühling währte nicht lange. 2011, wenige Monate nach Beginn des Aufstands, schwenkte Assad ein auf die Strategie der eisernen Faust. Es war die Linie der Hardliner im Militär und der mächtigen Geheimdienste. Sie wähnten von jedem Entgegenkommen, wie Assad es erwog, nur größere Gefahr für das Regime - den Sturz der Diktatoren in Tunesien und Ägypten vor Augen. Sie verließen sich lieber auf die erprobte Doktrin von Hafis al-Assad: Der hatte 1982 einen Aufstand der Muslimbrüder in Hama brutal niederschlagen lassen. Tagelang schoss die Armee damals ganze Stadtviertel in Ruinen, tötete nach Schätzungen etwa 20 000 seiner Untertanen.

Der syrische Präsident Baschar al-Assad

Syriens Präsident Baschar al-Assad.

(Foto: action press)

Und doch war Baschar al-Assad dem Sturz ja ganz nahe. 2015 kontrollierte er nicht einmal mehr ein Fünftel des Landes, Rebellen beschossen die Hauptstadt Damaskus und das Kernland des Regimes, die Siedlungsgebiete der Alawiten am Mittelmeer, jener schiitischen Minderheit, aus der Assads Clan stammt.

Im September 2015 aber griff Russlands Präsident Wladimir Putin direkt militärisch ein - auf der Seite des Assad-Regimes. Seine Luftwaffe gab dem Krieg die entscheidende Wendung. So rettete Moskau den Mann, den viele schon abgeschrieben hatten, den die Welt und gute Teile des eigenen Volks zum Teufel wünschten.

Seither wiederholt sich in diesem Krieg die Geschichte. Denn was jetzt in Idlib geschieht, folgt einem Muster. Dieses Muster gibt es, seit die russischen Jets über Syrien fliegen - vielleicht ist auch diese ewige Wiederholung ein Grund dafür, dass die Welt nicht mehr hinschaut.

Das Assad-Regime und Russland rechtfertigen die Angriffe auch jetzt wieder damit, Terroristen zu bekämpfen. Tatsächlich ist die militärisch stärkste Kraft in Idlib die Miliz Hayat Tharir al-Scham (HTS), hervorgegangen aus dem syrischen Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida. Die USA und die UN stufen sie als terroristisch ein. Andere Rebellen-Verbände dagegen werden von der Türkei unterstützt, die militärische Beobachtungsposten in Idlib unterhält - das Gebiet ist offiziell eine Deeskalationszone, drei Millionen Zivilisten leben dort. Doch Idlib ist auch eine Zone, in der Russland und die Türkei um Einfluss ringen. Sie haben 2018 eine Waffenruhe für die Region ausgehandelt. Moskau jedoch hält Ankara vor, radikale Gruppen nicht wie versprochen zu bekämpfen. Der Krieg ist längst so vielschichtig, dass ihn kaum noch jemand wirklich versteht.

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Die Angst dimmt das Licht: Ein Verkäufer auf einer fast menschenleeren Einkaufsstraße, einst die drittgrößte Syriens, beleuchtet seinen Stand nur schwach, damit die Kampfflugzeuge ihn nicht sehen. Kurz nach der Aufnahme wird er bei einem Luftangriff getötet.

(Foto: Tim Alsiofi)

Das massive Bombardement jedenfalls gilt oft nur vorgeblich den Terroristen. Getroffen werden Krankenhäuser, Bäckereien, Märkte, Wohngebiete. "Das sind zivile Objekte", sagte UN-Menschenrechtskommissarin Bachelet wenige Tage nach dem Angriff auf Maarat al-Numan. "Und es erscheint angesichts des sich wiederholenden Musters höchst unwahrscheinlich, dass sie alle versehentlich getroffen werden." UN-Generalsekretär António Guterres hat eine Untersuchung angeordnet, weil die UN von vielen dieser bombardierten Einrichtungen dem russischen Militär exakte Koordinaten übermittelt hatten - damit diese nicht bombardiert werden. Die bittere Ironie dieser Geschichte: Jetzt befürchten die UN, dass die Daten tatsächlich gezielt für Angriffe genutzt werden.

Doch die UN sind hilflos, auch daran hat sich die Welt augenscheinlich gewöhnt. Nothilfekoordinator Mark Lowcock redete dem Sicherheitsrat eindringlich ins Gewissen, dieser habe "90 Tage lang nichts unternommen, während das Massaker vor Ihren Augen weitergeht". Dann fragte er: "Wollen Sie wieder nur mit den Achseln zucken? Oder wollen Sie den Kindern von Idlib zuhören und etwas tun?" Doch die Vetomacht Russland hält unbeirrt ihre Hand über Assad. Ihr Botschafter Wassilij Nebensia lässt alle Vorwürfe abprallen, spricht von einer "Propagandamaschine", die jetzt wieder "volle Artillerie" feuere.

Echte Artillerie ist heute in Idlib zu hören, denn auf die Bomben folgt verlässlich die Bodenoffensive. So wurde auch schon Aleppo 2016 kurz vor Weihnachten gestürmt, die Region Ost-Ghouta bei Damaskus im Frühjahr 2018 und im Sommer dann Deraa im Süden, von wo die Revolution 2011 ihren Ausgang genommen hatte.

"Al-Assad oder wir brennen das Land nieder!", war die Parole alawitischer Offiziere und regimetreuer Milizen schon bald nachdem die friedlichen Proteste in einen bewaffneten Aufstand umgeschlagen waren und dieser 2012 zu einem Bürgerkrieg eskaliert war, befeuert von Unterstützung aus den arabischen Golfstaaten und der Türkei für die Rebellen und aus Iran für das Regime. Sie sprühten die Parole auf Wände, wenn sie die von den Rebellen eroberten Orte plünderten. Es ist die Tragödie Syriens, dass beides eingetreten ist: Assad wird auf absehbare Zeit an der Macht bleiben, so viel ist heute klar - doch Syrien ist niedergebrannt, zumindest jene Teile, die Assads Gegner einmal kontrolliert haben.

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Rauch steigt auf in der Innenstadt von Duma, kurz nach einem Bombenangriff in der Nähe des Sportstadions.

(Foto: Tim Alsiofi)

Das Regime hat sich dank russischer und iranischer Hilfe stabilisiert und kontrolliert heute wieder knapp zwei Drittel des Landes, darunter die wichtigsten Großstädte, die Küste, die Grenze zu Libanon und Jordanien. Eine politische Lösung, die aus Sicht des Westens und der Rebellen lange noch mit einer Perspektive verbunden war, Assads Herrschaft doch noch zu beenden, wird es allenfalls noch zu Putins Konditionen geben und mit Zustimmung Irans - beide wollen das Assad-Regime erhalten.

Politisch ist vieles, was vor Kurzem noch unmöglich zu sein schien, die neue Normalität: Die arabischen Golfstaaten, einst die eifrigsten Unterstützer der Rebellen, haben sich mit Assad abgefunden. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain öffneten Ende 2018 ihre Botschaften in Damaskus wieder. Der Gewinn an Legitimität ist für Assad umso mehr wert, als Bahrain einen solchen Schritt kaum ohne Zustimmung Saudi-Arabiens unternommen hätte. Und Jordanien hat zuvor schon den Grenzübergang Nassib wieder für den Personen- und Warenverkehr freigegeben und damit Handelsrouten, über die früher Geschäfte in Milliardenvolumen abgewickelt wurden. Nicht zuletzt hat Präsident Donald Trump den Abzug der US-Soldaten aus Syrien befohlen, was die Kurden, die den Nordosten Syriens kontrollieren, in Verhandlungen mit Assad zwingt.

Das mutet irrsinnig an, wenn man auf den Preis schaut, den die Syrer zahlen mussten. Etwa eine halbe Million Menschen sind durch die Kämpfe getötet worden, genaue Zahlen gibt es nicht. Ungefähr die Hälfte der Opfer waren Zivilisten, die weit überwiegende Zahl getötet von Truppen des Regimes, von syrischen und iranischen Milizen, russischen Bomben. Millionen sind verletzt und verstümmelt. Zehntausende sind verschwunden in den Folterkellern des Regimes. Von den 22 Millionen Einwohnern vor dem Krieg sind laut den UN 5,6 Millionen ins Ausland geflohen. 6,6 Millionen sind innerhalb des eigenen Land vertrieben worden, viele mehrmals.

Die Verheerung lässt sich in Zahlen fassen, doch fassbar wird sie damit nicht. Man stumpft ab, von Jahr zu Jahr mehr, zu abstrakt ist die Dimension des Leids. Wer verbindet mit den Statistiken noch individuelle Schicksale? Menschen die alles verloren haben, ihre Angehörigen, ihr Haus? Schon 2017 waren sieben Prozent der Gebäude in Syrien zerstört und 23 Prozent beschädigt, danach folgten weitere brutale Kämpfe. Sieben von zehn Syrern müssen von weniger als 1,90 Dollar am Tag leben, die Grenze für extreme Armut. Für den Wiederaufbau aber wären laut den UN 250 Milliarden Dollar nötig, andere Schätzungen nach 400 Milliarden.

Und Assad? Zeigt sich von all dem wenig beeindruckt. "Wir haben die Besten unserer Jugend verloren und unsere Infrastruktur. Aber wir haben dafür eine gesündere und harmonischere Gesellschaft gewonnen", sagte er Mitte 2017 - eine Gesellschaft, in der seine Gegner keinen Platz haben oder sich kriegsmüde fügen. Er hat wieder Statuen errichten lassen in den Städten des Landes, die seinen Vater Hafis zeigen oder seinen älteren Bruder Bassel, der als Nachfolger an der Spitze des Regimes auserkoren war, bevor er bei einem Autounfall 1994 ums Leben kam. Sie thronen über Ruinenlandschaften, ganze Stadtviertel liegen in Trümmern, menschenleer auch Jahre nach dem Ende der Kämpfe. Es ist eine unverhohlene Demonstration von Macht: Seine Zeit ist noch nicht abgelaufen.

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Man stiehlt kein Brot, an dem Blut klebt: Ein Junge sieht frisch gebackene Fladen, aber der Bäcker ist kurz davor bei einem Angriff ums Leben gekommen. Der Junge nimmt nichts von dem Brot und geht wieder.

(Foto: Tim Alsiofi)

Hat Assad also gewonnen? Er selbst hat immer bekräftigt, dass der Krieg erst ende, wenn über jedem Quadratzentimeter syrischen Bodens wieder die syrische Flagge wehe. Während Russland und Iran ihre Kriegsziele weitgehend erreicht haben, hat Assad nach seinem eigenen Maßstab noch nicht gesiegt, wenn man von einem Sieg überhaupt noch reden kann.

Die von den kurdischen YPG-Milizen dominierten und von den USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte kontrollieren noch immer ein Drittel Syriens. Der Nordosten ist zwar dünn besiedelt, doch liegen dort Ölquellen, die für das Regime von großem Wert wären. Benzin ist seit Monaten rationiert, vor den Tankstellen warten die Menschen in langen Schlangen.

Und dann ist da noch Idlib. Selbst Putin hat im April gesagt, dass er einen Großangriff auch aus humanitären Erwägungen nicht für durchführbar hält. In Idlib leben auch jene Zivilisten und Kämpfer, die aus Aleppo, der Ghouta oder Deraa weggebracht wurden. Von hier gibt es keine Flucht mehr, die letzte Schlacht des Krieges droht die grausamste zu werden.

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Kinder spielen auf einer Schaukel, die ihnen ihr Vater aus dem Blindgänger einer Fliegerbombe gebaut hat.

(Foto: Tim Alsiofi)

Immerhin, in der Nacht zum Freitag hat die Regierung in Syrien nach eigenen Angaben einer bedingten Waffenruhe für Idlib zugestimmt. Es laufen wieder Verhandlungen zwischen Russland und der Türkei, die maßgeblich bestimmen, was im Norden Syriens geschieht. Ein bisschen Hoffnung für die Menschen also, vorübergehend zumindest. Allerdings wäre es die erste Waffenruhe in Syrien, die nicht gebrochen würde. Es wäre ein Wunder, wenn sich die Geschichte nicht wiederholt.

Rania Kisar wird das in Idlib nicht mehr miterleben. Vor wenigen Tagen musste sie Syrien verlassen, obwohl sie bleiben wollte. Freunde berichteten ihr von Plänen, sie ans syrische Regime auszuliefern, wo sie seit 2011 auf den Fahndungslisten steht. Doch die Amerikaner zu Hilfe zu rufen, ohnehin ein Appell ohne Aussicht auf Erfolg, das war dann offenbar auch den Radikalen in Idlib zu viel. Rania Kisar steht am Flughafen Paris Charles de Gaulle, um ihr Gepäck aufzugeben. Sie fliegt zurück in die USA. Ihre Stimme am Telefon klingt schwach. Sie hat keine Kraft mehr.

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