Süddeutsche Zeitung

Krieg in Syrien:Erdoğans riskante Drohgebärde

Während bei klirrender Kälte Hunderttausende Zivilisten leiden, ringen die Türkei und Russland in Idlib um die Macht. Der Konflikt könnte für Erdoğan zur innenpolitischen Existenzfrage werden.

Kommentar von Paul-Anton Krüger

Recep Tayyip Erdoğan sei ein erfahrener Anführer, wenn es darum gehe, mit der Situation in Syrien umzugehen, säuselte jüngst James Jeffrey, der US-Sondergesandte für Syrien. Aber man habe den Türken gewarnt: Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sei nicht zu trauen. Mit dem hatte Erdoğan Deal um Deal geschlossen in Astana und Sotschi, hatte Deeskalationszonen vereinbart, die dann eine nach der anderen von der russischen Luftwaffe und der syrischen Armee mit iranischer Unterstützung zu Schutt gebombt wurden.

In Idlib, der letzten von überwiegend dschihadistischen Rebellen gehaltenen Provinz, steht nun eine Entscheidungsschlacht bevor, die das Verhältnis der beiden Autokraten auf die Probe stellt wie keine zuvor in dem an Grausamkeiten reichen Syrien-Krieg.

Erdoğan hat bereits 13 Gefallene durch Angriffe der syrischen Armee zu beklagen. Er hat Hunderte Panzer und Tausende Soldaten nach Idlib verlegt. Er spricht von Plan B und C, sollten sich die Truppen des syrischen Diktator Baschar al-Assad nicht hinter die in Sotschi vereinbarten Linien zurückziehen.

Der Aufmarsch ist mindestens eine riskante Drohgebärde. Vielleicht ist Erdoğan auch entschlossen, Krieg gegen Assad zu führen, gegen Russland und Iran. Die Entschlossenheit könnte daher rühren, dass ihm keine Optionen bleiben: Schaut er dem Vormarsch des Regimes zu, dann steht das schlimmste Massaker des Syrien-Kriegs zu befürchten, dann werden russische Bomben, syrische Artillerie und iranische Milizionäre Hunderttausende Menschen zwingen, an die geschlossene Grenze zur Türkei zu fliehen. In Idlib ist laut den UN Syriens größte Vertreibungskampagne im Gang.

Erdoğan könnte einen hohen Preis zahlen

Das türkische Militär hat in der Vergangenheit vereinzelt auf Flüchtlinge gefeuert, aber kann es den Ansturm Hunderttausender mit einer Mauer und Waffengewalt abhalten? Für Erdoğan könnte das innenpolitisch zur Existenzfrage werden.

Er lässt auf die syrische Armee schießen, aber wagt er es, russische Kampfjets vom Himmel zu holen? Schon einmal hat er eine solche Machtdemonstration versucht. Der Preis für die Türkei war dramatisch: Russland isolierte die Türkei politisch, verhängte ein Wirtschaftsembargo. Die Türkei bezieht die Hälfte ihres Gases aus Russland. Sie ist aber auch nach Deutschland Moskaus zweitwichtigster Kunde. Die Beziehung der beiden Staaten ist in vielen Aspekten ambivalent - aber die Verwundbarkeit der Türkei ist in fast allen Bereichen größer als die Russlands.

Erdoğan mag darauf hoffen, dass Putin den eigentlichen Wert der Türkei darin sieht, die Nato an ihrer Südflanke zu spalten - er hat Luftabwehrsysteme und Atomkraftwerke von Putin gekauft. Aber die grundlegend gegensätzlichen Interessen der Türkei und Russlands in Idlib lassen sich nicht in Einklang bringen, selbst wenn sich die Eskalation dieses Mal noch abwenden lässt.

Assad ist nie davon abgerückt, dass er jeden Quadratzentimeter Syriens militärisch zurückerobern will. Putin hat zwar immer von einer politischen Lösung geredet, aber nie danach gehandelt. Erdoğan könnte einen hohen Preis dafür bezahlen, dass er sich auf dieses zynische Spiel eingelassen hat.

Am schlimmsten aber trifft es die Hunderttausenden syrischen Zivilisten, die den Angriffen in Schneematsch und klirrender Kälte schutzlos ausgeliefert sind. Aus Europa kommt dazu wieder einmal: dröhnendes Schweigen.

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SZ vom 12.02.2020/het
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