Süddeutsche Zeitung

Gefechte in Syrien:Zehntausende Menschen in Idlib auf der Flucht

Im Nordwesten des Landes suchen die Menschen Schutz vor der heranrückenden syrischen Armee. Aber die Grenze zur Türkei ist geschlossen und die Flüchtlingslager sind ohnehin schon überfüllt.

Von Paul-Anton Krüger

Zehntausende Menschen sind in der nordsyrischen Provinz Idlib auf der Flucht vor schweren Gefechten. Truppen des Regimes von Präsident Baschar al-Assad versuchen seit Donnerstag vergangener Woche in einer neuen Offensive, unterstützt von der russischen Luftwaffe und von Iran kontrollierten Milizen in das Gebiet vorzustoßen - es ist das letzte, das von der bewaffneten syrischen Opposition kontrolliert wird. Die militärisch stärkste Kraft auf Seiten der Rebellen ist die dschihadistische Miliz Hayat Tahrir al-Scham. Nach Angaben von Hilfsorganisationen wurden bis zum ersten Weihnachtsfeiertag etwa 216 000 Menschen vertrieben.

Die Vereinten Nationen berichten, dass verstärkte Luftangriffe im Süden und Osten Idlibs sowie neue Kämpfe am Boden die Menschen in die Flucht treiben. Bevölkerungszentren wie Maraat al-Numan und Saraqeb seien massiv bombardiert worden. Bei einem Raketenangriff auf eine Schule in dem Ort Jobas, in der Flüchtlinge Zuflucht gesucht hatten, starben an Heiligabend laut Aktivisten acht Menschen, unter ihnen fünf Kinder und eine Frau. Auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten sind die Bewohner nach Angaben der UN wahllosem Beschuss ausgesetzt.

Die Offensive des Regimes hat zum Ziel, die seit 2012 geschlossene Überlandstraße M5 unter Kontrolle zu bringen, die Damaskus mit Aleppo verbindet und noch immer streckenweise durch Rebellengebiet führt. Dabei eroberten die Regierungstruppen nach Angaben der amtlichen syrischen Nachrichtenagentur Sana in den vergangenen Tagen mehr als 40 Dörfer und rückten bis auf wenige Kilometer auf Maarat al-Numan vor. Die Bewohner aus etwa 250 Ortschaften verließen ihre Häuser. Die meisten von ihnen zogen nach Norden in Richtung der geschlossenen türkische Grenze, wo sie sich Sicherheit erhoffen. Mindestens zwölf Zivilisten sollen jedoch schon bei der Flucht auf der M5-Straße durch Angriffe der russischen und der syrischen Luftwaffe getötet worden sein.

Verschärft wird die Lage der Vertriebenen durch das Winterwetter mit Temperaturen unter dem Gefrierpunkt und schweren Regenfällen. Viele Flüchtlingslager sind überfüllt, die Zelte wurden überflutet. Die Versorgung der Flüchtlinge durch die Vereinten Nationen und andere internationale Organisationen ist nur bis 10. Januar gesichert. Dann läuft eine UN-Resolution aus, die eine grenzüberschreitende Versorgung ermöglicht. Russland hatte deren Verlängerung im UN-Sicherheitsrat mit seinem Veto blockiert, weil Deutschland und die Mitinitiatoren Belgien und Kuwait darauf beharrt hatten, auch einen Übergang aus dem Irak weiter offenzuhalten, über den Hilfsgüter für 1,3 Millionen Notleidende in die von den kurdischen YPG-Milizen kontrollierten Gebiete Syriens gelangen. China hatte sich dem angeschlossen.

Die Offensive könnte auch zu neuen Verwerfungen zwischen der Türkei und Russland führen. Syrische Regierungseinheiten haben einen der zwölf befestigten Beobachtungsposten der türkischen Armee in Idlib umstellt, die diese im Einverständnis mit Moskau dort errichtet hatte. Im September hatten sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein russischer Kollege Wladimir Putin auf eine Deeskalationsvereinbarung für Idlib verständigt, die nun wieder infrage steht.

Russischer Druck hat Einheiten des Regimes bisher weitgehend davon abgehalten, die türkischen Truppen direkt zu attackieren. Erdoğans Sprecher Ibrahim Kalin sagte in Ankara nach einer Kabinettssitzung, Russland habe zugesagt, dass die Angriffe gestoppt würden. Erdoğan hatte am Montag eine Delegation nach Moskau geschickt, um darüber zu verhandeln.

US-Präsident Donald Trump warnte am Donnerstag Russland, Syrien und Iran, in Idlib Zivilisten zu töten. Sie seien dabei, Tausende Unschuldige umzubringen, schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Die Türkei arbeite hart daran, dieses Gemetzel zu stoppen. Er drohte allerdings nicht direkt mit einem Eingreifen der USA in der Region. Die USA haben noch einige Hundert Soldaten mit schwerem Gerät in Nordsyrien in der Nähe der Grenze zum Irak stationiert. Diese sollen dort die kurdischen YPG-Milizen unterstützen.

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SZ vom 27.12.2019
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